Die Trettach-Südwand
von und mit Josef Enzensperger (im September 1894)
Nach einem Vortrag im Akademischen Alpenverein München, erschienen im "Alpenfreund" 1894/95 Nr. 87-89 bzw. aus dem Buch "Ein Bergsteigerleben" von Josef Enzensperger

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 

Heutzutage kann man in der Saison in gewissen Gebieten der Ostalpen, wie den Dolomiten, dem Zillertal und der Ortlergruppe, keine Tur mehr machen, ohne ale Augenblicke Gefahr zu laufen, dass man sich auf ein Steigeisen niederlässt, an dem Eispickel seines Nebenmenschen sich spießt, von einer liebenswürdigen vorankletternden Partie ein Dutzend Steine jeglichen Kalibers auf den Kopf bekommt. und dergleichen unangenehme Dinge mehr erfährt. Die Wege sind besät mit verfaulten Überresten von Kletterschuhen, an jedem Berge hat irgend jemand ein oder mehrere Seile hängen lassen, die schwersten Gipfel sind durch die Haufen von Eierschalen, Glasscherben, Wurstpapieren, die dort in friedlicher Eintracht beieinander liegen, nicht unbeträchtlich erhöht worden. Es wimmelt da oben förmlich von Hochturisten und solchen, die es sein wollen, auf alle möglichen und unmöglichen Berge, auf allen „vernünftigen“ und „unvernünftigen“ Routen gehen sie – oder werden sie hinaufgezogen. Dann gibt es wieder andere Gegenden, die vielleicht viel bequemer zu erreichen sind als jene, in die sich aber doch nur höchst selten ein Fuß eines solchen exklusiven Hochturisten verirrt, und es wird noch lange dauern, bis sich auch dorthin der Strom der eigentlichen Alpinisten ergießt. So kennt auch das Allgäu alle Arten von Sommergästen, nur eine fehlt fast gänzlich: der wirkliche Hochturist. „Allgäu – ach was, Grasberge, Mugel!“ [1]  Da haben wir des Pudels Kern. Ja, wenn sie es kennen würden, dann würden sie anders sprechen; so aber haben sie nur ein verächtliches Achselzucken dafür, das wir mit ihrer Unkenntnis entschuldigen wollen. Freilich, nehmen wir nur die gewöhnlichen Anstiegsrouten, so finden wir im Allgäu nicht recht viel, was den verwöhnten Geschmack des Dolomiten-Gourmands [2]  befriedigen könnte; aber wozu haben wir kletterlustigen Epigonen denn die famose Erfindung der „unvernünftigen“ Seiten und der „neuen Probleme“ gemacht!. Eine Traversierung der Höfats, der Nordgrat des Großen Krottenkopfes und ähnliches sind Turen, die auch dem anspruchsvollen Alpinisten genügen dürften. Von einer solchen Tur, die zeigen soll, dass es sich auch für den waschechten „Kletterfexen“ verlohnt, ein paar Tage dem Allgäu zu opfern, will ich heute erzählen.

Im Herzen der Allgäuer Berge thront der dreigipfelige Bau der Mädelegabel über den Quellflüssen des Hauptstromes des Allgäu, der Iller. An Höhe zwei anderen Gipfeln der Gruppe nachstehend, ist sie doch bei ihrer zentralen Lage und massigen Entwickelung die wahre Königin derselben. Als der Herrscherin weit und breit fehlt ihr auch nicht das Zeichen fürstlicher Würde, , der blinkende Schmuck des Hermelins; ein kleiner , aber echter Gletscher, der einzige der Gegend, schmiegt sich an die Felsenleiber der zwei höchsten Spitzen. Mächtige Felspyramiden, verbunden durch einen scharfen, tiefgescharteten Grat, so ragen die Hochfrottspitze und die Mädelegabel aus dem Eise empor, das sich um ihren Südfuß legt; gegen Norden aber, die Täler der Spielmannsau und Birgsau beherrschend, streckt sich der gewaltige Turm der Trettachspitze kühn und drohend in die Lüfte, bei Einödsbach, der Perle des Allgäu, ein Landschaftsbild von solcher Großartigkeit schaffend, dass sich wenige in den Kalkalpen mit ihm messen können.

Es war ein altes Lieblingsprojekt von mir, sämtliche drei Berge an einem Tage zu ersteigen, ein, wie ich mir ursprünglich dachte, nicht schweres, sonder nur zeitraubendes Unternehmen; denn die Anstiegsroute auf die Trettachspitze liegt auf der Nordseite, die auf die anderen Spitzen im Süden, und der Gedanke an eine direkte Überschreitung der trennenden Kluft wäre mir noch vor wenigen Jahren als die Ausgeburt des Gehirns eines Wahnsinnigen erschienen. Aber leise legte eine Erfahrung nach der andern, die ich in fremden Gebieten gesammelt, Bresche in die alte starre Doktrin [3]  und – zuerst schüchtern sich regend, aber energisch zurückgewiesen, dann immer kecker sein Haupt erhebend – reifte in mir allmählich der Entschluß heran: Und probieren tust du es doch einmal! im Vorjahre war ich (bei Gelegenheit einer Ersteigung der Mädelegabel direkt von Einödsbach) in der Trettachscharte zwischen Trettachspitze und Mädelegabel gestanden und hatte damals noch ratlos den Kopf geschüttelt, so gewaltig und unnahbar ragte, zum Greifen nahe, die Südwand der Trettach vor meinen staunenden Blicken empor. Damals wurde in Münchener Freundeskreisen das Problem vielfach diskutiert; aber nachdem einige Versuche ohne Resultat verlaufen waren, brach sich immer mehr – auch bei mir – die Überzeugung Bahn, dass hier nichts zu holen sei. Indes, ich hatte mir das Versprechen gegeben, einen letzten Versuch zu machen, und das kostete mich ja nichts; denn ich gehöre nicht zu den sonderbaren Leuten, die eine alpine Niederlage als Schande betrachten.

Ich verhehlte mir nicht, dass das Unternehmen, wenn überhaupt möglich, mit ganz außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden sein werde; es war mir daher sehr angenehm, dass ich der Sorge um einen geeigneten Genossen enthoben war; weilte ja mein auf manch schwerer Bergfahrt bewährter Freund und Klubgenosse ing. cand. [4]  Neumann-Amberg zufällig im Allgäu. Wir verbanden uns Mitte September d. J. zu einem energischen Versuche; auch mein junger, tatendurstiger Bruder Ernst wollte endlich einmal in die Geheimnisse einer Felskletterei ersten Ranges eingeweiht werden.

Unser Plan ging, wie schon erwähnt, weiter als bloß auf die Südwand der Trettach; es sollte die ganze Gruppe überschritten werden. Der erste Teil derselben konnte keine erheblichen Schwierigkeiten bereiten und wurde gewissermaßen als Dreingabe oder als Entschädigung für den wahrscheinlichen Fall eines Misserfolges in der zweiten Hälfte betrachtet.
 

Südwand der Trettachspitze (Skizze von Ernst Platz S. 59 - Ein Bergsteigerleben) So sah uns denn der späte Abend des 15. September auf dem oft begangenen Wege von Oberstdorf zum Waltenberger-Hause. Dort oben war große Gesellschaft (mit uns achtzehn Personen), die aber um halb neun Haut es sich schon auch den Matratzen bequem gemacht hatte; nur zwei uns bekannte Herren waren noch auf, die uns dann in liebenswürdiger Weise beim Wasserholen, Abkochen, Abspülen und ähnlichen kleinen Freuden des Hüttenlebens unterstützten. Als brave Alpinisten, voll Pflichtgefühl gegenüber den gestrengen Vorschriften meiner Sektion und voll Rücksicht auf unsere schlafenden Nebenmenschen, krochen auch wir schon zur Hüttenstunde, um zehn Uhr, aufs Lager. Undank ist der Welt Lohn – mein Schlafkamerad im Damenkabinett, ein älterer, etwas mürrischer Herr, äußerte mehrmals seinen Zweifel, ob wir um neun Uhr und nicht um elf Uhr, wie er steif und fest zu glauben schien, in der Hütte angekommen wären und ihn also noch rechtmäßigerweise in seinem Schlaf gestört hätten. Der gute Mann schien der sonderbaren Ansicht zu sein, daß, wer nach der Hüttenstunde anlangt, überhaupt draußen zu bleiben habe.

Ich war so gewissenlos, mir dadurch den Schlaf nicht im geringsten verkümmern zu lassen. Kurz vor vier Uhr weckten mich die polternden Schritte des Allgäuer Führerseniors Schraudolph, der die Treppe heruntertappte, um Feuer anzumachen; da mir dran lag, möglichst früh fortzukommen, so erhob auch ich mich und wanderte hinauf in den Dachraum zu meinen Gefährten, um sie vom üppigen Lager zu vertreiben. Sie hatten bei dem Mangel an Decken ein geniales Mittel angewandt, um sich der herrschenden Kälte zu erwehren; auf der einen Matratze lagen sie, die andere diente als Zudecke. Da aber jeder den anderen zu überlisten und ihm den größeren Teil der „Decke“ wegzuziehen suchte, so hatte die ganze Nacht keiner von ihnen ein Auge zugetan. Ja, praktisch muß man sein! Mit Geduld und guten Worten brachte ich sie trotzdem empor. Während die anderen nun den auf Hütten üblichen stundenlangen Morgenrummel inszenierten, waren wir schnell fertig geworden. In die Schuhe geschlüpft, als Frühstück ein hartes Ei und ein Stück Brot verzehrt – welcher Magenleidende entsetzt sich nicht beim bloßen Gedanken an ein solches Frühstück! – und nach einer Viertelstunde, um halb fünf Uhr, konnten wir die Rucksäcke über die Schulter werfen und den Weg unter die Füße nehmen. Der Himmel war bedeckt, hie und da schimmerte die bleiche Sichel des Mondes durch die Wolken und erhellte so zeitweise notdürftig den geringen Steig, der im Bockkar aufwärts zur Scharte zwischen Bockkarkopf und Hochfrottspitze führt.
 

Der starke Neuschneefall der letzten Tage machte sich in diesem sonnengeschützten Winkel bald bemerkbar; Freund Neumann bahnte unverdrossen einen Weg durch die reichen Schneemassen. Nach fünf Uhr tauchten unsere Köpfe über den Grat empor; wir standen in der Bockkarscharte.
Der Anblick eines einzigschönen Lichtphänomens bannte den eilenden Fuß. Im Westen stand, halb untertauchend in zartem Nebel, der Mond und übergoß mit seinem silbernen Glanze die hintenliegenden, frisch beschneiten Gipfel. Welch ein Gegensatz auf der anderen Seite! Zu unseren Häupten lag in drohender Unbeweglichkeit eine blau-schwarze Wolkenbank, die am östlichen und südlichen Horizont nur einen schmalen, wie mit dem Messer abgeschnittenen Streifen freiließ. Der aber erstrahlte im Osten, da die Sonne noch unter dem Horizonte stand, im tiefsten Purpurrot, im Süden ging die sprühende Glut in blässeres Orange, tiefleuchtendes Blau und zartes Grün über und in diesem flammensprühenden, niederen Streifen hoben sich unendlich scharf und fein die dunklen Konturen der fernen Berge ab; eine dämonisch wilde Beleuchtung, ein Bild erhabenster Großartigkeit, das uns allen unvergeßlich bleiben wird. Unser früher Aufbruch hatte sich überreichlich belohnt. Erst die Kälte die uns schüttelte, mahnte uns nach zehn Minuten wieder zum Aufbruch. Links von uns wandte die Hochfrottspitze uns ihren Südwestgrat zu; wir packten sie frisch gleich von dieser Seite an, um so mehr, als uns von einer Ersteigung über den erwähnten Grat nichts bekannt war. Die Sache sah, von unten betrachtet, nicht leicht aus; um so größer war unsere Überraschung, nirgends wirkliche Schwierigkeiten zu treffen. Schon nach fünfundzwanzig Minuten standen wir auf dem ersten Gipfel, obwohl wir eine Zeit lang im Klettern einhalten mussten, um die nunmehr nachgerückten und unter den Wänden durchgehenden Partien nicht durch Steine zu gefährden. Wir hatten auf diese Weise den weitaus kürzesten Zugang zur höchsten Spitze der Gruppe gefunden, einen Zugang, der noch dazu auf keinen Fall schwieriger ist als die beiden anderen Routen, über die Ostwand und den Nordostgrat. Unseres Bleibens war nicht lange; das herrliche Lichtphänomen war geschwunden, die Aussicht eine von uns früher her wohlbekannte. Nachdem ich mich des Diebstahls der Visitenkarte eines Bekannten schuldig gemacht hatte – derselbe wird mir hoffentlich verzeihen - , brachen wir auf, um den Gratübergang zur Mädelegabel zu machen. Dort sammelten sich allmählich ganze Kolonnen von Turisten an; haufenweise sahen wir sie tief zu unseren Füßen als schwarze Punkte über das oberste Schneefeld des Ferners ziehen. Ein scharfer Grat brachte uns in wenigen Minuten auf den nördlichen, wahrscheinlich höheren Gipfel der Hochfrottspitze. Die nun folgende Kammwanderung zur Mädelegabel ist ungemein reizvoll. ohne größere Schwierigkeiten zu bereiten, erfordert sie doch Aufmerksamkeit auf Schritt und Tritt; es ist wirklich schade, dass der große Turistenstrom immer die Heeresstraße auf die Mädelegabel zieht, statt diese weit interessantere Route zu verfolgen. Man braucht ja nicht gerade ein engagierter Kletterer zu sein, um an einer netten, nicht allzuschweren Kletterei mehr Vergnügen zu finden als an einem Dahinbummeln auf wohlpräparierten Wegen. Sollte es da nicht auch auf Seite der Führer ein wenig an Initiative fehlen? Es würde mich speziell freuen, wenn diese Zeilen einen Allgäuer Führer veranlassen würden, seinen Herrn einmal, statt auf der gewöhnlichen Route, über den Südwestgrat auf die Mädelegabel zu führen; ihn selbst wird es nicht gereuen und sein Herr wird ihm Dank wissen.
 

Dank unserer vorzüglichen Kondition und dem daraus resultierenden scharfen Tempo langte wir schon drei Viertelstunden nach Verlassen des zweiten Hochfrottgipfels auf der Mädelegabel an. Es war erst sieben Uhr; wir hatten, der Horizontaldistanz nach gerechnet, bereits die Hälfte unseres Tagwerks hinter uns. Da es ohnehin noch zu kalt war – die Felsen waren mit Reif überzogen - , so beschlossen wir, die Sonne, die allmählich über das Gewölk die Oberhand bekam, auf uns und die Felsen noch ein wenig einwirken zu lassen. Kurz nach uns erschien auch mein Schlafgenosse in der Damenkabine auf der Bildfläche; seine erste Frage war – diesmal nicht an mich gerichtet - , ob wir gestern nicht erst um elf Uhr ins Waltenbergerhaus gekommen seien. Der Mann besaß einen entschieden hartnäckigen Charakter. Oder sollten wir so alpin herabgekommen ausgesehen haben, dass er uns jedes Vertrauens für unwürdig hielt.

Die Trettachspitze von Südwesten (Lichtbild von Franz Scheck) Wir benützten unseren anderthalbstündigen Aufenthalt hauptsächlich zu einem eingehenden Studium der Trettach-Südwand. In Luftlinie drei- bis vierhundert Meter entfernt, aber getrennt durch die dreihundert Meter tief eingeschnittene Trettachscharte, steht drüben unser heutiges letztes Ziel. Es sieht ganz anders aus als so ein dünnwandiger, ruinenhafter Dolomitturm, von dem man glauben möchte, dass er unter dem Gewichte des Ersteigers zusammenbrechen müsste; nein, eine festgefügte runde Riesensäule mit blanken Plattenwänden, aber auch in ihrer trotzigen Wucht noch zierlich und von edelstem Ebenmaße, so strebt sie in die Lüfte empor, von dieser Seite das Ideal eines imponierenden Berges. Nehmt einen vierfach vergrößerten Großlitzner und ihr habt den Anblick der Trettach-Südwand! Und welch ein Plattenschuß [5]  und welche Neigung! Das bewaffnete Auge vermag nur winzige Einrisse zu entdecken, denen man mit dem Namen „Kamin“ viel zu viel Ehre erweist, und auch diese endigen hoch über der Scharte. Ohne jede Gliederung stürzt die kolossale Wand vom Gipfel in die Tiefe; nur ein sehr kundiges Auge vermag aus der helleren Färbung des Gesteins zu schließen, dass in der Mitte eine bandartige Zone von etwas geringerer Neigung eingebettet ist. Aber wie zu dieser Zone gelangen? Die hundert Meter von der Scharte bis zu ihrem unteren Ende, vollkommen senkrecht und unheimlich glatt, scheinen jede Aussicht auf den Sieg zu vernichten. Hier kann nur ein Versuch entscheiden; eine verbissene Energie war über uns gekommen, wenn auch das Hoffnungsthermometer auf Null gesunken war.
 

Es war wenige Minuten vor halb neun Uhr, als wir aufbrachen, um den Nordgrat der Mädelegabel zur Trettachspitze zu verfolgen. Vier uns bekannte Herren, darunter ein Klubgenosse, waren noch auf dem Gipfel; das schöne Schauspiel, das sich im Laufe der nächsten Stunden vor ihren Augen abwickelte, nahm ihr Interesse so gefangen, dass sie ihren Aufenthalt bis zu unserer Ankunft auf der Trettachspitze ausdehnten. Diese Zuschauerschaft verursachte mir anfänglich ein etwas unbehagliches Gefühl; wenn man sich auch noch so oft vorpredigt, dass es für einen vernünftigen Mann durchaus keine Schande ist, umkehren zu müssen, so ist man schließlich doch auch nur ein schwacher Mensch und läuft Gefahr, in dem Bewusstsein, beobachtet zu werden, mehr zu wagen, als man dies unbeobachtet täte. Nachträglich dagegen war sie mir sehr angenehm , sonst hätten wir jedenfalls nach berühmtem Muster die „bösen Haunolde“ gespielt, oder es wäre wieder so gegangen, wie meinem Bruder und mir drei Tage vorher bei Gelegenheit der Traversierung der vier Höfatsgipfel, wo ein Allgäuer Führer, dessen Namen ich um seinetwillen verschwiegen will, gegenüber einem Dutzend Augenzeugen dieser Partie die Ausführung derselben mir der klassischen Begründung leugnete: „Das halte ich für unmöglich, also ist es nicht wahr.“ Von dem Armutszeugnis, das sich der Mann ausstellte, indem er eine nicht sehr schwierige Gratwanderung für völlig unmöglich erklärte, will ich ganz schweigen. Was hätte er aber gar erst jetzt gesagt, wenn wir überhaupt keine Zeugen gehabt hätten? Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen; es ist mir an und für sich ungemein gleichgiltig, ob Herr Müller, Huber oder Schultze glauben, ich sei irgendwo hinauf gekommen oder nicht; aber hinterrücks für einen Lügner oder Schwindler erklärt zu werden, ist nicht sehr angenehm.

Steiles Geschröfe und Geröll, untermischt mit stark geneigten Schneefeldern, bringen uns schnell in die Tiefe. Immer drohender baut sich drüben die Wand auf, immer wankender wird bei Freund Neumann und mir die Hoffnung auf einen günstigen Erfolg. Jetzt, von der Mitte des Nordgrates aus, scheint sie gar ganz überhängend zu werden. Der unheimliche Eindruck wurde nicht abgeschwächt, als wir kurz vor neun Uhr zu der breiten, mit wilden Felszähnen und Nadeln gespickten Trettachscharte gelangten. Mein junger Bruder meinte zwar in blindem Zutrauen zu uns und in jugendlichem Optimismus, „es gehe sicher“, während wir zwei älteren sehr zweifelnd unserer Häupter schüttelten. Diesmal sollte freilich ausnahmsweise die Jugend recht behalten.
Hier konnte, wie gesagt, nur der Versuch entscheiden; wenn das Wagnis überhaupt gelingt, das sehen wir, so wird es eine Kletterei, mit der sich nicht leicht eine zweite messen kann. Ich gestehe ehrlich, wenn wir uns nicht geschworen hätte, Hand an die Wand selbst zu legen, so hätte ich es wenigstens hier schon aufgegeben, nicht aus Mangel an Mut, sondern weil ich es für aussichtslos hielt; so aber eilten wir über die Zacken der breiten Scharte hinweg. Direkt vom Ende der Scharte ist die Wand unangreifbar, da sie in kolossalem, gelblichrotem Überhang auf derselben ansetzt; aber nach rechts führt ein Riß auf einen schmalen, losgesprengten Felspfeiler, der weit in die Wand hinausgebaut ist. Ein luftiges Plätzchen! Die Scharte fällt nach Osten senkrecht ab, sich anschließend an den wahrhaft furchtbaren, sechshundert Meter hohen Plattenschuß, der sich von der Trettach nach Südosten hinabsenkt in die Wilden Gräben. In diesem Plattenschuß stehen wir auf meterbreiter, aber sicherer Säule; über die Wand, die sich über unseren Köpfen erhebt, müssen wir hinauf.
 

Wir gehen ohne Zaudern ans Werk. Vorzüglich trainiert, wie ich war, und in ausgezeichneter Disposition, erbat ich mir die Ehre des Vorantritts. Ich war entschlossen, das Äußerste, was ich noch verantworten konnte, zu wagen. Die Rollen wurden verteilt, die Seile bereit gehalten und die Schuhe ausgezogen. Ich hatte meine Kletterschuhe vergessen und kletterte daher in Strümpfen, worüber ich nachträglich sehr froh war; denn ich glaube nicht, dass ich in Kletterschuhen die Wand überwunden hätte. Der Überhang mit dem dieselbe sich sofort über dem Pfeiler aufbaut, hinderte uns an einer genauen Rekognoszierung, und so schätzten wir die Distanz bis zum ersten Ruhepunkt viel zu niedrig, ein böser Fehler, der leicht schlimme Folgen nach sich hätte ziehen können.

Skizze eines Bergsteigers von Ernst Platz Wir haben zwei Seile in der Gesamtlänge von fünfundvierzig Metern, ich binde jedes extra um die Hüften. Neumann in seinem ausgeprägten Solidaritätsgefühl befestigt die beiden anderen Enden an sich und verkeilt sich in den Riß, durch den wir heraufgeklettert waren, während mein Bruder als Beobachtungsposten an die äußerste Kante des Pfeilers tritt. Es war halb zehn Uhr, als ich Hand an die Felsen legte. Ich trete auf die horizontale Kante einer vom Fels etwas losgesprengten Platte und quere nach rechts, da dort die Neigung noch am wenigsten über die Lotlinie hinausgreift, aber da wird schon der erste Versuch, mich zu erheben, abgeschlagen – nirgends ein Griff! Dafür ersehe ich hier besser die unheimliche Beschaffenheit der Wand; im Durchschnitt ist sie wohl achtzig Grad geneigt, so dass man den Kopf weit ins Genick zurücklegen muß, um zu ihr aufzublicken, stellenweise hängt sie über, und nicht genug mit diesen schönen Eigenschaften, besitzt sie zu alledem noch den ungünstigsten Charakter, der dem Kletterer überhaupt entgegentreten kann: nach unten abbrechende Plattenlagen, die wie riesige Dachziegel übereinander greifen. Diese Formation musste von vornherein ungemein weit auseinanderliegende und spärliche Griffe und noch schlechtere Tritte bedingen. Neumann machte mich aufmerksam, dass es vielleicht weiter links besser gehen werde, wenn ich einmal eine Höhe von fünf bis sechs Metern gewonnen haben würde; da oben sehe er etwas, was wie eine kleine Leiste ausschaue. Ich tramversierte zurück und griff den Überhang da an, wo er am stärksten war; hier war wenigstens eine Idee von Griffen vorhanden. Die paar Meter zu der Leiste hinauf sind ungemein schwer und anstrengend, da die höchst spärlichen Griffe aus winzigen „Nasen“ bestehen, die man nur mit Daumen und Zeigefinger fassen kann; ein vertikaler Riß, in dem sich kein Griff befindet, muß zum Verklemmen des linken Fußes dienen, während der rechte untätig in der Luft baumelt. Weiter oben greift, wie gesagt, eine horizontale, wenige Zentimeter breite Leiste in den noch stärker werdenden, nunmehr ganz unpassierbaren Überhang hinein. Da sie grifflose ist, so ist es sehr schwierig und erfordert peinlichste Beobachtung des Gleichgewichtes, sich an ihr aufzustützen und mit gestützten Händen unter dem Überhang nach rechts zu hangeln. Nunmehr befindet man sich nicht mehr über dem Pfeiler, sondern frei in der vierhundert Meter hoch ohne jeder Gliederung abstürzenden Wand. Es folgt eine sehr schlechte Traverse nach rechts, teilweise nach abwärts. Die Neigung der Platten, die ich dann nach links aufwärts erklettere, wird etwas geringer, dafür der Fels unheimlich glatt. Ich klettere mit äußerster Vorsicht höher und höher, bis neue Überhänge an die Zähigkeit der Finger die höchste Anforderung stellen. Auch sie werden überwunden, noch immer ist an der furchtbaren Wand kein Ende abzusehen – da ertönt von unten der Ruf: „Nur noch drei Meter Seil!“ Jetzt rächt sich, dass ich beide Seile umgeknüpft habe. Was tun? Retourklettern? Unmöglich! Mit einer Hand loslassen und das eine Seil abknüpfen? Bis jetzt habe ich nicht einen einzigen Tritt gehabt, der mehr als Fingerbreite gemessen hätte – also auch unmöglich.

Nur ruhig Blut! Im Notfall muß ich eben weiter und die Seile nachschleifen, bis ich stehen kann. Ich streckte mich und schaue umher, um mich ja nicht in eine Sackgasse zu verklettern, da fällt mein Blick links auf – was ist das? Hurra! ein echter veritabler Tritt! Nie in meinem Leben habe ich einen solchen freudiger begrüßt als hier. Es ist zwar nur so groß wie eine Hand, aber wunderbar eben, und ich bin durch das Vorhergehende nicht verwöhnt. Im Nu bin ich drüben; die rechte Hand klammert sich an den senkrechten Felsen fest, ich stehe auf dem linken Beine und strecke das rechte in die Höhe – „wie eine Gans“, werden sich die Beobachter drüben gedacht haben. Der Seilknoten, den ich mit der linken Hand zu lösen suchte, zeigte sich selbstverständlich möglichst hartnäckig. Indes „mit viel Geduld und wenig Behagen“ wurde ich damit doch fertig; das Seil flog hinab, im Nu hatte es Neumann an das andere befestigt und „Weiter!“ erscholl es von unten. Es war ein erlösender Ruf, denn allmählich find der einseitig angestrengte Fuß doch zu erlahmen an. Wenn nur die verfluchte Wand ein Ende nähme! Ich komme wieder in enorm schweres Terrain. Wie die Finger sich festkrallen in den winzigen Rissen und der ganze Körper unter der Anstrengung bebt! Endlich, endlich ein weiterer Riß, der sogar eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Kamin hat! Es ist zwar überhängend, aber oben ist ein Block eingeklemmt, auf den muß ich um jeden Preis der Welt. Wieder eine sehr schlechte Traverse um die Ecke in den Riß hinein, in den ich gerade die rechte Schulter zwängen kann, und dann werden mit frischem Mute die überhängenden Stellen links forciert, winkt ja in nächster Nähe das Ziel. Die letzte Stelle erinnert sehr an den Block im Zsigmondy-Kamin der Kleinen Zinne, nur sind dort vorzügliche Griffe und Tritte, hier aber fast gar keine. Noch zwei Meter – hurra, ich stehe auf dem Blocke! Ein Juhschrei: - „Gewonnen!“ So ertönt es zu meinen unsichtbaren Kameraden, ein Juhschrei und Bravorufen erschallt als Antwort von der Mädelegabel herüber von unseren Beobachtern, die ich in der Hitze des Gefechtes ganz vergessen hatte, so dass ich im ersten Moment verwundert hinüberblickte.
 

Ich setzte mich auf den Block, der für Einen gerade Platz bot, ließ die Füße ins Leere baumeln und gönnte mir die notwendige Erholung, während die anderen unten sich „reisefertig“ machten. Ein gleich schwindeliges Plätzchen habe ich noch nicht gesehen, auch am Winklerturme nicht. Unter meinen Füßen sechs Meter Überhang, dann vier Meter lang eine ungefähr fünfundsiebzig Grad geneigte, spiegelblanke Platte und dann Luft – vierhundert Meter Luft! Das ist noch mehr als „der Kater am Dach“, denke ich mir vergnügt. Dann beschäftige ich mich damit, die Höhe der forcierten Wand am Seil abzumessen – ganze achtunddreißig Meter durchweg schwerster Kletterei ohne jeden Ruhepunkt!

Von einem Aufseilen der Pickel und Rucksäcke kann nicht die Rede sein; von den Nachfolgenden muß eben jeder mit seinem Rucksacke klettern. Meine Schuhe und allen meinen Proviant nimmt Freund Neumann in seinen Rucksack, das andere läßt der Schlauberger liegen. Jetzt kommt mein Bruder an die Reihe; da geht es freilich schneller als bei mir. Keuchend, als ob die Brust ihm zerspringen wollte, taucht er unter mir auf und der wunderbare Unsinn, den nur ein echter Alpinist begreift: „Scheußlich, aber schön!“ entringt sich seinen Lippen.

Als er bei mir heroben war, seilte ich mich los und wart das freie Seilende hinab. Da ich den Standpunkt Neumanns nur vermuten, nicht sehen konnte und der Wind das Seil beim Entwickeln stets auf die Seite trieb, so dauerte es einige Zeit, bis er im Besitze desselben war. Ihm war, wenn auch nicht die schwerste, so doch jedenfalls die anstrengendste Aufgabe zugefallen; man muß diese Wand kennen, um ermessen zu können, was es heißt, hier mit einem zwanzigpfündigen Pack auf dem Rücken zu klettern. Endlich stand auch er bei uns. Wir brachten das Kunststück fertig, zu dritt auf dem kleinen Block Platz zu finden. Es gehört nicht zu den größten Freuden des irdischen Lebens, fast eine halbe Stunde auf einem rauhen Steine zu sitzen, namentlich wenn er in der Mitte eine scharfe Spitze hat, und so war ich herzlich froh, als ich mich wieder erheben konnte. Es kostete mich indes einige Anstrengung, bis ich in dem Durcheinander von Armen und Beinen meine eigenen gefunden hatte und nun weiter konnte.

Der Riß vertiefte sich, schloß aber nach sechs Metern unter einer gewaltigen, viele Kubikmeter haltenden Felsmasse, die über uns hereinhing. Doch rechts von ihm hing ein ebensolcher Block aus der Wand heraus, der oben eine horizontale Schneide hatte; das Ganze sah aus wie ein dicker Schwebebaum, den man aus der Wand herausgeschoben hatte. Die Schneide war mit Zacken und Zähnen gespickt, die ich ihr fein säuberlich ausriß, bevor ich mich auf sie hinaufschwang und im Reitsitz drauf niederließ. Da ich mich wieder anseilen wollte, kam Neumann mit dem Seile nach; nun saßen wir alle zwei auf der anderthalb Meter langen Schneide, und ich muß gestehen, dass die Situation auf uns beide einen recht ungemütlichen Eindruck machte, obwohl unser Gewicht im Verhältnis zu den vielen Zentnern des Blockes ein minimales war. In dem Kamin nebenan eingeklemmt, wartete mein Bruder, der seine Ungeduld kaum mehr bezähmen konnte.
Indes boshaft, wie ein Seil zu ungelegener Zeit immer ist, hatte es sich natürlich, um mit Freund Teufel zu reden, "zwei- bis siebzehnmal" verhängt, und so bedurfte es einer gewaltigen Auffrischung der Turnkünste, die wir einst am Schwebebaum gelernt, bis wir nach einem seiltänzerartigen Hin- und Her- und Übereinanderweg- und Untereinanderdurchsteigen endlich den richtigen Zipfel erwischt hatten. Ich kroch an dem überhängenden Blocke zu unseren Häuptern nach rechts, wo wieder eine glatte Platte mit anschließendem, überhängendem Kaminchen nach links auf seine Höhe führt. Leider wechselte jetzt mit einem Male die Güte des Gesteins. War es zum guten Glück an der schweren Wand im allgemeinen fest gewesen, so wurde es jetzt ungemein faul und brüchig. Ich erinnere mich, in dem seichten Kamin (es war mehr eine Wand mit einem Riß darin als ein Kamin zu nennen) einmal in halber Verzweiflung gewesen zu sein, gerade wo wieder ein Stück sich schwach überhängend erhob. Drinnen im Kamin konnte ich nicht bleiben; denn alle eingeklemmten Steine waren unsicher, und links in der freien Wand brach jeder Vorsprung vom kleinsten bis zum größten aus. Ein ganzes Peletonfeuer [6]  ging über meine Kameraden hinweg, die aber unter dem überhängenden Block brillant geschützt waren. Es war keine leichte Arbeit, über die paar Meter hinwegzukommen, doch schließlich gelang es. In ähnlichen seichten Rissen, quer durch gewaltige, wirr aus der Wand hervorspringende Felsblöcke, die den besten Eindruck des Haltlosen und Sturzdrohenden machten, hielten wir uns nach links gegen eine gratartig hervortretende Rippe, die die Bugstelle der Südwand zur Südwestwand markiert. eine steile, flache Rinne neben ihr gestattete ein wesentlich leichteres und schnelleres Fortkommen, da hier jener schon obenerwähnte, etwas weniger geneigte Plattengürtel eingelagert ist. Ich bemerkte hier ein kleines Graspäckchen, aus dem eine violette, glockenförmige Blume hervorsproß; dies erste und einzige Zeichen lebender Natur in der starren und toten Majestät der Felsenwüste berührte und eigentümlich, wie ein Hoffnungsstern des Gelingens. Hier kam uns jetzt alles spielend leicht vor; es zeigte sich eben die psychologisch leicht zu erklärende Erscheinung, dass nach Überwindung ungewöhnlich großer Schwierigkeiten der Maßstab, den man anlegt, momentan stark in die Höhe geschraubt wird. Wenn wir das Wagestück unternommen hätten, die Trettach-Südwand im Abstieg zu versuchen – ein Plan, den wir für den Fall des Misslingens im Aufstiege unausgesprochen in der Seele trugen - , so wären uns wahrscheinlich auch diese Stellen schwierig vorgekommen. Jetzt war nur mehr ein einziges Fragezeichen für das Gelingen der Tur vorhanden: der Plattengürtel war zu Ende und die gelbrote Schlusswand bäumte sich senkrecht empor.
 

Kletterei an der Trettachspitze (o. Herkunftsnachweis) Sie sah bedrohlich genug aus und schien eine zweite Auflage der untersten Wand werden zu wollen. Als wir aber ganz an die herangekommen waren, öffnete sich zu unserer angenehmen Überraschung plötzlich ein Ausweg. Nach rechts eingeschnitten führte ein verborgener Kamin in die Höhe; unter einem Block durchkriechend – wir entschwanden hier auf einmal den Blicken unserer sehr erstaunten Zuschauer, die gar nicht begreifen konnten, was wir hier an der scheinbar schwersten Stelle der gelben Wand zu suchen hätten, - gelangten wir auf glatte Platten, die uns in einen trichterförmig, ganz obern am Gipfelgrat eingelagerten Kessel brachten. Ich wartet wenige Minuten unter dem Gipfel, dessen Kreuz ich schon fast mit den Händen berühren konnte, bis meine Gefährten bei mir Standen; dann zwangen wir unsere malträtierten Füße noch zu einigen raschen Sprüngen und betraten (um halb zwölf Uhr) gleichzeitig den in heißem, schweren Kampfe errungenen Gipfel. Die stolze Trettach-Südwand war bezwungen.

Ein aus vollem Herzen kommender Jauchzer kündete den vier geduldigen Zuschauern auf der Mädelegabel unseren Sieg. Glückwünsche erschallten als Antwort und es entspann sich im weiteren Verlaufe eine regelrechte Unterhaltung von Gipfel zu Gipfel, die auf unserer Seite Neumann mit Stentorstimme [7]  führte. Es war ergötzlich zu beobachten, wie sich die Verschiedenheit unserer Naturelle in unseren Beschäftigungen gleich nach der Ankunft auf der Spitze äußerte. Bei uns Älteren der Realismus, beim Jüngsten der Idealismus; mein allererster Gedanke war es, meine Schuhe von Neumann zu verlangen (der mir ihre Auslieferung in der Wand mehrmals aus Bequemlichkeit verweigert hatte) und sie dann mit einem unsagbaren Gefühl der Befriedigung über meine armen, nunmehr fast strumpflosen Füße zu ziehen; Freund Neumann dagegen versicherte, dass er fürchterlich Hunger habe und fiel mit großem Eifer über meinen so fürsorglich von ihm mitgenommenen Proviant her; mein Bruder Ernst aber konnte noch immer nicht recht glauben, dass er wirklich über dies fürchterliche Wand heraufgestiegen sei, und ergoß sich in freudigen und bewundernden Ausrufen. Auf seine jugendliche Seele hatte offenbar die Tur – wenigstens äußerlich – den mächtigsten Eindruck gemacht. So saßen wir seelenzufrieden da oben, aßen, tranken, rauchten und plauderten. Für die zwei Älteren von uns war es noch aus besonderen Gründen ein weihevoller Moment. Vor Fast genau drei Jahren hatten Freund Neumann und ich auf diesem Gipfel gestanden. Das Gefühl, das damals unsere Brust durchwogte, war ein zum mindesten ebenso freudiges gewesen wie jetzt, wo wir doch auf einem unvergleichlich schwereren Wege die Spitze erkämpft hatten; war es ja damals unser erster schwieriger Gipfel gewesen. Auf diesem Berge hatte der hochalpine Gedanke von uns Besitz ergriffen, damals war uns der Sinn für den unendlichen Reiz aufgegangen, den die Schwierigkeiten der Alpenwelt auf einen frischen, tatenfrohen Geist ausüben. Und jetzt schloß sich die Reihe an dem Gipfel, von dem sie ihren Ausgang genommen hatte; denn ich glaube nicht, dass wir im Felsgebirge eine noch größere Anforderungen stellende Spitze erklimmen werden.

Es stellte sich Nebel ein, aber nicht der graue, feuchte und ungemütliche Nebel der Regenwolken, sondern jene lichtdurchfluteten, weißen Fetzen, die uns neckisch umfließen, spielend an den Felstürmen hinauf- und hinunterkriechen, bald sich zusammenballen, bald wieder zerstieben und da und dort einen unvermuteten Ausblick auf irgend ein sonnenbeschienenes Fleckchen Erde gewähren. Wir empfanden dankbar die Güte von Mutter Natur, die uns wohl heute zur Belohnung einen besonders günstigen Eindruck hinterlassen wollte.
 

Nach mehr als einstündigem Aufenthalte brachen wir auf, um über den Nordostgrat abzusteigen. Gewaltige Neuschneemassen bedeckten noch die Nordseite des Berges und Eiszapfen hingen an den Wänden herab; gerade in der Mitte des Grates zerriß der Nebel und ließ uns drüben vier kleine Punkte erspähen; es waren unsere Bekannten, die langsam über die weiten frischen Schneefelder der „Schwarzen Milz“ dahinzogen. Auch uns bereitete der Schnee einige Schwierigkeit und so brauchten wir über eine Stunde, bis wir auf dem vom Nordost- und Nordwestgrat wie von Zangen eingeschlossenen Firnfelde standen. Neumann und ich hatten ursprünglich vor, unter tiefem Absteigen und Umgehen der Trettachspitze auf der Westseite am gleichen Tage noch die drei Pickel und meinen Rucksack zu holen, waren aber neidisch auf Bruder Ernst, der gemütlich ins Tal bummeln konnte, und ließen es infolge einstimmigen Beschlusses bleiben. Selten sind wir so eines Herzens und einer Seele gewesen wie in diesem Punkte. Wozu auch die schönen Erinnerungen des Tages durch solch mühselige, viele Stunden lange "Schinderer" verderben? Das Gepäck liegt übrigens noch in seinem Depot und gedenkt einen langen Winterschlaf zu machen. Ein rascher Dauerlauf brachte uns in anderthalb Stunden in die Spielmannsau, der Abend sah uns wieder in Oberstdorf. -
 

Ich möchte zum Schlusse noch ein kleines Resumé über die Schwierigkeiten der Trettach-Südwand geben. Ich habe dieselben in starken Farben geschildert, so wie sie mir eben vorkamen. Es sollte mich zwar nicht wundern, wenn irgend einer jener Dolomithelden, mit deren Erscheinen auf der Bildfläche – wenn man nur nach ihren Publikationen urteilt und die Erzählungen ihrer Führer nicht hört – eine neue Ära in der alpinen Klettertechnik begonnen haben muß, nächstens in Begleitung eines Bettega oder Antonio Dimai ins Allgäu käme und einige Wochen später in den „Mitteilungen“ zu lesen wäre, die Südwand der Trettachspitze weise eine oder zwei „nicht uninteressante“ Stellen auf. Ich habe mich eben noch nicht zu jener – schwindelnden Höhe alpiner Leistungsfähigkeit emporschwingen können, die mich zum Beispiel bei der Traversierung der Fünffingerspitze eine einzige „ziemlich schwierige“ Stelle finden ließe, und – füge ich hinzu – hoffentlich bringe ich es auch nie so weit. Jene zweifelhaften Heronen des Alpinismus, denen alles leicht ist, mögen sich einmal an den alten Spruch „Selbst ist der Mann“ erinnern und ihren Dimai oder Sepp Innerkofler hinten nachklettern lassen; ich habe allerdings begründete Zweifel, ob ihre Führer ihnen das gestatten würden, nachdem natürlich jedem Menschen sein Leben lieb ist. Nicht dass ich verlangen wollte, es solle ein jeder so weit gehen, als er vollkommen selbständig gehen kann; o nein, so lange einer nicht wie ein Mehlsack hinaufgehisst werden muß, sollen die herrlichen Genüsse des Felskletterns nicht nur den Felsenmännern erster Klasse vorbehalten sein. Aber jene Pharisäer haben mir stets das Blut in Wallung gebracht, welche die oft nur zu ausgiebig ausgenützte Hilfe ihrer ausgezeichneten Führer später als Piedestal [8]  ihres Ruhmes benützen. Über diesen größten Übelstand im ausübenden Alpinismus könnte man heute schon ganze Bücher schreiben; hoffentlich verbreitet sich einmal eine berufenere Feder als die meinige mit schonungsloser Klarheit über diesen wunden Punkt.

Trettachspitze, Mädelegabel und Hochfrott von Einödsbach aus (Lichtbild von Franz Scheck S. 73) Doch ich sehe, ich bin ganz von meinem ursprünglichen Vorhaben abgekommen, eine Wertung der Schwierigkeiten unserer Tur zu geben. Ich nehme zum Vergleich einen in letzter Zeit allgemein bekannt gewordenen Gipfel, der als ein Typus sehr schwerer Kletterei gilt, den Winklerturm in der Rosengarten-Gruppe. Vergleiche sind immer etwas misslich, so auch hier; denn der Winklerturm verlangt reine Kamin-, die Südwand der Trettachspitze fast nur Wandarbeit. Ich möchte jedoch, so paradox es klingen mag, den Satz aufstellen: Wenn Kamine und Wandstellen gleiche technische Schwierigkeiten haben, so ist die Wandstelle doch schwerer. Ein erfahrener Kletterer wird mich verstehen. Abgesehen davon sind die wirklich abnorm schwierigen Stellen bei der Trettach-Südwand weit länger als beim Winklerturm, bei dem eigentlich nur eine einzige solche vorkommt: der berühmte enge Riß; sie bietet auch vor allem nicht die ausgezeichneten Ruhe- und Versicherungspunkte, wie sie bei letzterem alle zehn bis fünfzehn Meter vorkommen. Zudem ist die ganze Kletterei länger, wenn auch die sehr großen Schwierigkeiten sich nur über eine Strecke von hundert Meter Höhe erstrecken. Alles in allem muß ich, was technische Schwierigkeiten anbelangt, der Trettach-Südwand einen wesentlichen Vorrang zugestehen. Jedoch spielen bei einer solchen Abschätzung die Individualität des Abschätzenden, seine jeweilige Disposition und ähnliche Dinge mit, so dass man nicht leicht zu einem unangreifbaren Resultate gelangen kann. Daran aber dürfte in Anbetracht der Wesensverschiedenheit zwischen Kamin und Wand nicht zu rütteln sein, dass die Trettach-Südwand an Gefährlichkeit für einen nicht sehr guten Alpinisten und an Exponiertheit den Winklerturm bei weitem übertrifft. Ich möchte daher jedermann, der seiner Kraft und vor allem seine Zähigkeit und Gewandtheit nicht vollkommen sicher ist – und man gibt sich da nur zu leicht einer Selbsttäuschung hin -, aufs eindringlichste vor einem Versuche an dieser Wand warnen; denn jeder Leichtsinn, jede unüberlegte Bewegung rächt sich hier mit unfehlbarer Sicherheit auf die schrecklichste Weise. An alle kaltblütigen Felsenmänner ersten Ranges aber – jedoch auch nur an diese – richte ich die Aufforderung: Widmet ein paar Tage dem verkannten Allgäu! Ihr findet dort an jener stolzen Südwand der Trettachspitze eine Tur, die euren höchstgespannten Anforderungen genügen wird.
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung "Die Trettach-Südwand" aus dem Buch von Josef Enzensperger "Ein Bergsteigerleben" (1924), basierend auf dem ursprünglichen Vortrag in der AV-Sektion Allgäu-Kempten in 1895.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Bei den Originalskizzen handelt es sich um die in der Zeitschrift vom DÖAV veröffentlichten echten Zeitdokumente aus jener Zeit. Ergänzend wurden historische Ansichtskarten in die Erzählung eingebaut, die jedoch nicht Gegenstand der Originalliteratur waren.
Zum besseren Verständnis einiger von Enzensperger benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.

 
Glossar:
[1] Mugel: bedeutet sinnngemäß Erhebung, Höhenrücken, Buckel, Berg, Bodenerhöhung (Quelle: synonyme.woxikon.de) -->zurück
[2] Gourmand: wurde im 18. Jahrhundert als „jemand, der gerne viel und gut isst“ genannt (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[3] Doktrin: Eine Doktrin (vom lateinischen doctrina, „Lehre“) ist ein System von Ansichten und Aussagen; oft mit dem Anspruch, allgemeine Gültigkeit zu besitzen (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[4] Candidatus Ingenieur (cand. Ing.): Ein Student im Hauptdiplom eines Ingenieurstudiengangs (Quelle: abkuerzungen.woxikon.de) -->zurück
[5] Plattenschuss: bezeichnet in der Bergsteigersprache ein steiles Stück glatter übereinanderliegender Felsplatten -->zurück
[6] Peloton: wurde im 18. Jahrhundert beim preußischen Heer der achte Teil eines Bataillons bezeichnet. Beim Peloton-Feuer schossen die acht Pelotons abwechselnd jeweils geschlossen eine Gewehrsalve ab, sodass der Eindruck eines „rollenden Feuers“ entstand. Das Abfeuern der Gewehre wurde auf den Flügeln der Schlachtreihe begonnen und zur Mitte fortgesetzt (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[7] Stentor: ist der Name eines griechischen Kämpfers in der Sage vom Trojanischen Krieg, dessen Stimme so laut gewesen sein soll wie die von fünfzig anderen Männern zusammen. Im übertragenen Sinn sagt man deswegen von einem Menschen, der sehr laut brüllen kann, er habe eine Stentorstimme (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[8] Piedestal: Ein Piedestal oder Postament ist ein aufwändig gestalteter Sockel von Gebäuden, Statuen oder Säulen (Quelle: wikipedia.de) -->zurück