Die Marchspitze (Der Ilfenspitz)
von und mit Hermann von Barth (aus dem „Allgäuer Wegweiser“ - 06. September 1869)

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 

Blick auf die Hornbachkette mit Marchspitze (links) und Öfnerspitze (rechts) vom Muttekopf aus © wanderpfa.de Wir beginnen nun unserer Besteigungen in der Hornbacher Kette mit dem den Krottenköpfen zunächst stehenden Marchspitz, welcher von uns hier [in Hinter-Hornbach] eine beträchtliche Strecke talaufwärts entfernt ist. Man bemerkt ihn als zarte Linie, welche sich an die rechte Seite eines der Felsköpfe hinzeichnet, die als Erhebungen seitlicher Ausläufer die nächste Begrenzung des Tales oberhalb Hinter-Hornbach bilden und die Spitzen der Kette – vom Bretterspitz angefangen – verdecken. Der Marchspitz erscheint – in dieser Richtung gesehen – als ein sehr steiler, etwas geschwungener Kegel.

Um an seinen Fuß zu gelangen, hat man zunächst im hinteren Hornbachtal nach den Peters-Alpen hinaufzugehen. Ihrer sind wohl zwanzig einzelne Hütten; die Mehrzahl derselben befindet sich in geringer Höhe über dem Bache am jenseitigen Gehänge. Beide Ufer verbindet hier wieder ein Alpsteg, von welchem sich ein schmaler Steig nach den wenige Minuten entfernten oberen Hütten hinaufzieht. Berührt man dieses auch nicht, so geht man hier gleichwohl über den Steg auf das linke Bachufer und den Weg längs des Bachbettes über den Grund der Peters-Alpe in gerader Linie weiter talabwärts. Der Hintergrund des Tales verläuft in eine enge Schlucht, von steilen, wohl über tausend Fuß (ca. 300m) hohen Wänden geschlossen, über welche – von der Höhe der „March“ – der junge Hornbach in mächtigen Kaskaden herabstürzt. Links zeigt sich wieder die Grathöhe des Gebirges mit der kahlen Felspyramide, deren Ersteigung unsere diesmalige Aufgabe ist; rechts heben sich steile Grashänge empor, durchschnitten von einem tiefen Felstobel mit starkem Wasserfall, welcher weit in den Gebirgskörper hinein sich erstreckt. Daß man die Höhe der March von der innersten Tiefe der Hornbachschlucht nicht mehr erreichen könne, zeigt sich ziemlich klar. Es soll zwar eine Stelle bestehen, an welcher ein sehr tüchtiger Steiger mit Hilfe von Eisen emporklimmen kann, doch wäre dieser Ort wohl schwer aufzufinden und der Versuch an sich nicht ratsam. Der gewöhnliche Weg zum Übergange aus der Peters-Alpe über das "Märzle" ins Traufbachtal windet sich am Eingange der Schlucht – wo eben der geradlinige Weg über das Bachtal stärker sich zu heben beginnt und fast unmittelbar nachdem man an der vorbezeichneten Seitenkluft vorbeigekommen – an den steilen Grashängen zur Rechten hinan. Unserer Absicht entspricht dieser Weg nicht, des ungeheuren Bogens wegen, welchen wir – am Kreuzeck und Märzle vorbei, an den Krottenköpfen hin – nach dem Fuße des Marchspitzes zu beschreiben hätten; wir gehen vielmehr an der linken Talseite nach dem letzteren gerade hinan. Der Ausgangspunkt unseres Weges ist der gleiche, wie der des vorher angegebenen; etwa eine Viertelstunde von den Peters-Alpen entfernt, nahe am Eingange der eigentlichen Talschlucht, an der Stelle, wo der fortlaufende Weg eine entschiedene Neigung zeigt – die Talsohle verlassend – am Gehänge anzusteigen. An der gegenüberstehenden Bergseite bemerkt man hier leicht einen vorgestreckten, schroff in die Hornbachschlucht abfallenden Ausläufer, welcher durch die Abtrennung von seinem Gehänge eine nordwestlich geöffnete Schulter bildet, an deren Ausgang vom Talboden eine breite Anschütte sich hinaufzieht. Durch dieses "Loch" (wie es ein Heuer der Peters-Alpe bezeichnend nannte) führt der Steig auf die erste Abstufung, von welcher sich sodann die Möglichkeit des weiteren Hinansteigens ergibt.

Blick von der Öfnerspitze hinab zu den Peters-Alpen und ins Hornbachtal © wanderpfa.de Ist man an dem bezeichneten Punkte des Talweges angelangt und hat sich daselbst genau orientiert, so verläßt man den bisherigen Steig, begibt sich auf das mit wenigen Sprüngen zu erreichende Schuttfeld der Talsohle hinunter und überschreitet dasselbe sowie den Bach quer nach der entgegengesetzten Seite. Über einen Abhang groben Gerölles und Getrümmers, welches indes nicht überwachsen ist, geht man nun der Ausmündung der Kluft in gerader Linie zu und wird nach kurzem Ansteigen den deutlich erkennbaren, hin und her gewundenen Steig antreffen. Derselbe zieht sich an der Anschütte bis nahe an dem Ausgange der Kluft hinan, überschreitet sodann das aus dieser herabschießende Gewässer, und den Graben selbst links lassend, wendet er sich an den steilen Wiesenhängen rechts hinauf, in langgezogenen Windungen ihre schroffen Abbrüche umgehend. Weiter aufwärts zieht er sich durch Gebüsche und an einzelnen aufrechtstehenden Bäumen hin, und erreicht (nach einer kleinen halben Stunde vom Talboden aus) einen vorspringenden, niedrigen Kopf [es ist dies der Hintere Bärenkopf], welchen ein kleiner, von Bäumen umstandener Wiesfleck bedeckt. Auf demselben wird man im Hochsommer einen Heuschober aufgerichtet finden.

Hier steht nun erst der bedeutende, steile Lahnenhang vor Augen, von dessen Höhenrande dichte Gebüsche herabhängen, während kleine, unzusammenhängende Strauchpartien an seiner Seite hin verteilt sind. Die Fortsetzung des Steiges sucht man hier vergebens, und gleich die erste, zwischen Gesträuche hinaufziehende Wiesengasse zeigt einen scharfen Neigungswinkel; hier sind daher die Steigeisen anzulegen. Nun geht es über die freien Grasplätze – welche bald nach links hin eine Neigung nach der Kluft zeigen, die wir anfangs berührten, während gegen rechts dichteres Gebüsche sie bekleidet – steil und steiler aufwärts. Dem festen Grasboden folgt allmählich weiches, feuchtes Moos, welches hie und da durchbrechendes, glattes und blätteriges Gestein überzieht. Gelegentlich trifft man wohl auf eine Spur, welche wie ein Tritt aussieht, aber von einem weiteren Verfolg derselben ist keine Rede. Mit Hilfe der im lehmigen Boden und an den brüchigen Schrofen vortrefflich eingreifenden Eisen kommt man rasch aufwärts und gelangt bald an die höchste Stufe, welche jedes weitere Vordringen zu versperren scheint, da sie aus nahezu senkrechten, mit Gebüsche behangenen Felsabstürzen besteht. Über dies kurze Strecke hinauf besteht jedoch ein angelegter Steig, und es handelt sich nur darum, diesen zu finden. Im geraden Aufwärtssteigen längs der freien Grasplätze muß man unfehlbar auf einen sehr markierten, scharfen Plattenabsturz des sichtbaren Höhenrandes aufmerksam geworden sein, an welchem hin man wohl anfangs den Anstieg selbst zu bewerkstelligen gedenkt, da er nicht sehr bedeutend erscheint und man mit einigen Schritten – wozu sich wohl kleine Stufen finden werden – darüber hinwegzukommen vermeint. Erst am Fuße desselben angelangt, ermißt man seine Dimensionen und die Steile seines Abfalles. Man gehe jedoch immerhin bis an diese Platten hinauf, wende sich jedoch – unmittelbar bevor eine neben denselben aufgerichtete Felsrippe dies unmöglich machen würde – gegen rechts. Man trifft hier sogleich den schmalen Steig, welcher (an vorspringende Felsstücke und angewurzelte Baumstämme sich schmiegend) die Höhenstufen erklettert, deren Fall so beträchtlich ist, daß die einzelnen Windungen des Pfades fast senkrecht übereinander liegen. Durch dichtes Gebüsche tritt er dann hinaus auf eine breite Wiesenterrasse, von welcher sich mäßig geneigte Grashänge nach der Höhe hinauf fortsetzen.

Nachdem man noch auf den Rückweg Bedacht genommen und durch irgend ein erkennbares Zeichen den Eintritt des Weges in das Gebüsch markiert hat, wird der Marsch über leicht geneigte Halden hohen Grases, an welchen die Gebüsche mehr und mehr verschwinden, fortgesetzt. Die Steigeisen sind hier nicht mehr nötig. Indem man abermals eine beträchtliche Höhe der schon erstiegenen hinzufügt, gewinnt man mehr und mehr Überblick auf die wellenförmigen Terrassen der „March“, in die immer tiefer sinkende Schlucht des Hornbaches hinunter, wie namentlich auf die Abstürze der Bergseite, an welchen der eigene Weg verfolgt wird, nach dieser Tiefe. Der Bergabhang zur Rechten zeigt sich noch immer sehr schroff, von tiefen Einrissen gefurcht, und läßt keinen Zweifel darüber, daß man nicht darauf rechnen könne, quer über denselben hinüber die „March“ zu erreichen, daß man vielmehr den – wenn auch höher ansteigenden – seitlichen Rücken auch weiter beizubehalten habe. Sein von diesem Standorte aus zuhöchst sichtbarer Vorsprung bildet einen kegelförmigen Kopf, der nicht mehr völlig begrast ist, dessen Abhang vielmehr aus gebrochenen, mit Sand und Grieß bedeckten Stufen besteht. Während der Weg bisher stets über Wiesenboden von gemäßigter Ansteigung führte, hebt sich der nach dem bezeichneten Vorsprung hinaufziehende Hang ziemlich beträchtlich, doch ist auch dieser gut gangbar, da man auf seinen – wenn auch steil übereinandergelegenen, doch glatten und breiten – Stufen völlig sicheren Fuß fassen kann.

Auf der erreichten Höhe erblickt man bereits unter sich die wellenförmige Ebene eines Talkessels, welcher westwärts in das Kar der Krottenköpfe hinauf verläuft, nordwärts gegen die Schlucht des Hornbaches hin geöffnet ist, östlich von unserem Wiesenrücken, südlich von einer starken, zusammenhängenden Felsabstufung des Fußes des Marchspitzes geschlossen wird. Unser seitlicher Bergrücken schließt, im Halbbogen gegen rechts sich wendend, an die Felsterrasse über der bezeichneten Stufe unmittelbar an, daher wir nicht nötig haben, auf den Boden der „March“ hinabzusteigen, in deren Grund wir eine Hüterhütte und einige kleine Wassertümpel wahrnehmen.
Die Neigung ist fortan eine sehr geringe. Nach Übersteigung einiger leichter Terrainwellen, und nachdem eine sehr unbedeutende Einsattelung durchschritten worden, betreten wir den ebenen Rücken, welcher an die hügelige Felsterrasse am Fuße des zu ersteigenden Gipfels direkt anschließt. Hier angelangt, wollen wir eine kurze Rekognition [1]  vornehmen.

Der Marchspitz steht uns hier südwestlich in unmittelbarer Nähe gegenüber. Seine nördliche Seite fällt in regelmäßig gebänderten Stufen vom Gipfel herab, setzt jedoch in einer bedeutenden Steilwand in das Kar herab, welches die ganze Nordseite des Felskegels umgibt und bis an die Scharte des Gebirgsgrates an dessen östlichen Fuße [die March-Scharte] heranreicht. Die höchste Mulde des Kars bekleidet ein an die Nordseite des Felskegels sich anlehnendes Firnfeld von mäßiger Größe. Ein zweites, kleineres Firnfeld legt sich an die Nordseite des Berges, höher als das erstere und mehr gegen Westen gerückt. Von der Scharte im Gebirgsgrat am westlichen Fuße des Marchspitzes [heute Spiehler-Scharte genannt] wendet sich eine abzweigende, an der Nordseite des Berghanges herlaufende Felsrippe gegen die „March“ hinunter. Die Geröllfelder, welche im ganzen weiten Halbkreise bis zur Krottenspitze hinüber an den Fuß der Felswände sich hinanerstrecken, werden durch diesen Seitenzweig und die vortretende Masse der den Krottenköpfen zunächst sich auf dem Grate erhebenden Zacken [Hornbachspitze und Faulewandspitzen der späteren Namensgebung] zu einer schmalen Gasse eingeengt. Über diesem Engpasse erweitert sich der Zwischenraum der sich gegenüberstehenden Bergkörper wieder zu einer stark aufsteigenden Mulde, deren größte Fläche von einem Firnfelde eingenommen ist und welche sich an der Grathöhe, von kleinen Felsnadeln geschlossen, ebenfalls nur mit einer schmalen Scharte öffnet. Was endlich noch den westlichen Abfall des Marchspitzes betrifft, so kennen wir denselben bereits vom Großen Krottenkopf her. Sein Aussehen ist nichts weniger als einladend, doch wissen wir durch die Betrachtung vom Rücken des „Kanzes“ (Kanzberg) aus, daß der allgemeine Neigungswinkel dieser Kante ein verhältnismäßig geringer ist, daß der Berg (wie hier ein sehr bezeichnender, ortsüblicher Ausdruck lautet) „hier eine Lage hat“. Stellen die nicht weit über der Gratscharte auf seiner Kante sich erhebenden Türme und Nadeln auch einige Schwierigkeit in Aussicht, so kann man früheren Erfahrungen zufolge doch mit Sicherheit erwarten, auf keine unüberwindlichen Hindernisse zu stoßen. Blicken wir von dem Rücken, den wir gegenwärtig einnehmen und welcher die letzten Reste von Vegetation zeigt, nach der linken Seite hinab, so bemerken wir auch hier ein Kar, welches sich am Fuße der Wände des dem Marchspitze zunächst stehenden Felsgipfels hin erstreckt [das Ilfenkar am Fuße der Nördlichen Ilfenspitze]; quer an den Hängen desselben fortlaufend, zeigt sich in demselben ein Steig, welcher (wie mir berichtet wurde) an der Spitze des Gebirges bis zur großen Scharte – der „Balschte-Scharte“ der Karten erstreckt [nicht der Balschte-Sattel, sondern die heutige Schönecker-Scharte ist hier gemeint] und durch dieselbe ins Lechtal hinunterführt.
 

Um nun an die Ersteigung des Marchspitzes selbst zu gehen, verläßt man den an die Felsschrofen anschließenden, grasbewachsenen Rücken und bewegt sich an diesem selbst – quer gegen rechts ansteigend – der Höhe der oberen Geröll- und Firnmulde zu. Die Schrofen, deren Neigung gegen den Talkessel der „March“ nur eine geringe ist, sind auf treppenartigen Stufen sehr gut gangbar und man erreicht das obere Kar ungefähr unter der Mitte des Firnfeldes, welches sich aus demselben an die Wände des Marchspitzes anlehnt. Bald hat man auch dessen unteren Rand erreicht und mag sich nun über das Schneefeld quer gegen rechts aufwärts wenden, da dessen feste, wellenförmige Stufen bequemer gangbar sind als die lockeren Schuttfelder seiner seitlichen Begrenzung. Immerhin wird man sich bald veranlaßt sehen, auf letzteren seinen Weg fortzusetzen, da das Firnfeld gegen die Höhe hinauf eine zu bedeutende Steigung annimmt. Man nähert sich nun, im losen Gerölle ansteigend, dem Abfalle der seitlichen Felsrippe, welche vorher näher besprochen wurde, und wendet sich – da dieselbe Wand auf das Geröllfeld absetzt – um deren Fuß nach der rechten Seite herum. Nahe heran drängen von der entgegengesetzten Seite die zackigen Schrofen, durch welche der Gebirgsstock der Hornbacher Kette unmittelbar mit den Krottenköpfen zusammenhängt und bilden mit dem – nunmehr auf die linke Seite getretenen – Ausläufer des Marchspitzes die enge Gasse, von welcher ebenfalls bereits die Rede war. Im Geröll und losen Getrümmer ihres Bodens bewegt man sich nun langsam und mit großer Mühe hinauf. Bald öffnet sich der schmale Durchgang wieder zur oberen, nach der Gratscharte hinaufsteigenden Mulde; man hält sich am besten fortwährend links, hart an den dem Kar entsteigenden Felsschrofen, an welchen man gelegentlich einen festen Tritt oder Handgriff erhält. Sowie der Felsboden zur Linken gangbar erscheint, verläßt man die Mulde gänzlich, in welche man nur mit größerer Mühe (und auf dem stark geneigten Firnfeld, welchem man sich bereits bedeutend genährt hat, nur mit Schwierigkeit) aufwärts dringen könnte. Die Schrofen des Seitenzweiges, welcher nunmehr betreten wird, sind steil aufgebaut, doch vielfach gebändert und gebrochen; ein geübter Steiger wird hier noch wenig Schwierigkeiten und leicht den jedesmal passendsten Durchgang finden. Noch bevor man die Höhe des Grates völlig erreicht hat, zeigt sich gegen links ein zusammenhängender, gangbarer Felshang und man wendet sich daher in dieser Richtung quer aufwärts, die westliche Höhenkante des Marchspitzes zur Rechten behaltend. An schmalen Felsstufen hin, kleine abschüssige Schuttfelder quer übergehend, jede passende Treppe zum Aufwärtsklettern benützend, gelangt man nun in die Nähe des oberen Firnfleckes, von welchem ein kleiner Abschnitt übergangen wird, worauf man sich in einen engen (etwas gegen rechts direkt nach der Grathöhe hinaufziehenden) Graben geleitet sieht, welchen links eine senkrechte, manchmal sogar überhängende Felsmauer überragt. Im Gerölle dieser mehr und mehr sich verengenden Kluft arbeitet man sich nun empor und erblickt bald in der Höhe die blätterförmig gespaltenen Felszacken der Gratschneide, dieselben, welche den Weg auf ihr von Anfang an bedenklich erschienen ließen; dies beweist zugleich, daß die Höhe, welche man auf dem Marchspitz selbst bis hierher erreichte, noch keine sehr bedeutende ist.
 

Von der am Fuße dieser Zacken endenden Kluft strecken sich nach der linken Seite ein paar kaminähnliche Felsspalten nach der Schneide hinauf, in welchen sich das Hindernis gut umgehen ließe; eine in Mannshöhe überhängende Wand hindert jedoch, in eine oder die andere zu gelangen. Zweien Personen wäre es vielleicht möglich, sich gegenseitig hinaufzuhelfen, ein einzelner dagegen sieht sich genötigt, über die Schneide der Zacken selbst zu klettern und – was noch schlimmer ist – von einem dieser Kartenblätter [die Bezeichnung „Kartenblätter“ hat sich bis heute erhalten]auf das andere überzugehen. Jedem anderen, als dem mit der Natur dieser Dolomitschrofen Vertrauten, müßte ein solcher Versuch als Wahnsinn erscheinen und nur die außerordentlich rauhe und brüchige Natur des Felsens läßt ihn gelingen. Man klimmt an der Felsstufe der rechten Seite der bisher verfolgten Kluft hinan, auf den ersten Zacken, und an demselben seitwärts vorbei, steht mit gespreizten Füßen über dem Einrisse beider, faßt jenseits eine Steinmasse und schwingt sich hinüber, klettert zur Schneide hinauf, und läßt sich endlich an deren scharfem Abfalle bis zum Einschnitte im Grate vorsichtig hinabgleiten. In wenigen Minuten hat man diese heikle Passage im Rücken.

Nun geht es auf der rauhen Kante des Felsrückens hinan. Der Gipfel scheint bereits sehr nahe zu sein, doch ist er noch hinter der Krümmung der Gratschneide verborgen – und mit Ersteigung der nahen, scheinbar höchsten Erhebung dehnt sich eine neue zackige Felsstrecke zur Höhe hinauf. Der Grat wird noch ein paarmal sehr enge und durch Plattenlagen an seiner minder steil abfallenden Südseite schlecht gangbar; doch hat man solche Stellen stets mit wenigen Schritten überwunden. Noch einmal drängen steile Absätze nach der Nordseite des Gipfels hinaus, welche indes hier – aus breiteren, besser gelagerten Stufen und zusammenhängenden Geröllbändern bestehend – wenig Schwierigkeiten mehr bietet. Bei abermaliger Erreichung der Höhenkante befindet man sich dem Gipfel bereits nahe und nach Übergehung eines kurzen Stückes schmaler Felsschneide betritt man den einige Schritte breiten, mit Felsbrocken überschütteten höchsten Kopf. Derselbe trägt ein trigonometrisches Signal, nur aus einer schwachen Latte bestehend; ich traf es umgestürzt und obwohl ich es wieder aufpflanzte, dürfte es gleichwohl nicht lange stehen geblieben sein.
 

Großer Krottenkopf aus dem Hermannskar Ostwärts fällt der Marchspitz äußerst steil auf die Scharte des Gebirgsgrates [die March-Scharte]; eine von seinem Gipfel abgetrennte niedrige Kuppe zeigt in dieser Richtung einen gewaltigen, massiven Plattenabsturz. Eine zersägte südliche Kante unseres Berges erstreckt sich gegen das Lechtal hinab; mehrfache sehr steile, von Plattenwänden eingeschlossenen Risse strecken sich an dieser Südwestseite (aus dem Kar zwischen ihm und dem Großen Krottenkopf [dem Hermannskar]) hinauf bis zur Höhe der westlichen von uns begangenen Gratschneide – einer dieser Gräben sogar bis an den Gipfel selbst. Vielleicht wäre auch in dieser Richtung eine Ersteigung möglich. Ostwärts blicken wir über die uns nächste, felsige Doppelkuppe hinweg, auf die „Kreuzkarköpfe“ [unter den „Kreuzkar- oder Kreuzkarlköpfen“ sind Kreuzkarspitze und Noppenspitze unserer Namensgebung zu verstehen], welche jedoch ebenfalls eine ziemlich untergeordnete Stellung einnehmen, ein bedeutender, jedoch bereits ziemlich ferne gerückter Felsgipfel tritt uns im Bretterspitz entgegen, der seinerseits wieder von der Pyramide des Urbeleskarspitz weit überragt wird. Die von den einzelnen Zwischengipfeln herabziehenden Seitenkämme gestatten keinen Einblick in die von ihnen eingeschlossenen Täler und Kare; der ganzen Beschaffenheit des Gebirges nach zweifle ich indes nicht, daß eine jede Scharte desselben erreichbar sein wird. In der westlichen Hälfte der Hornbacher Kette scheint dieses regelmäßig von der nördlichen Seite besser zu gehen, man trifft dafür ein Hindernis an den äußerst steil abfallenden unteren Bergstufen.

Hermannskarsee vom Gr. Krottenkopf aus gesehen © wanderpfa.de Eine weitere Aussicht gegen Westen verschließt uns die hohe Kette des Ramstallkopfes und des gewaltig emporragenden Großen Krottenkopfes, dann der Öfner- und Krottenspitze. Nordwärts schweift der Blick über die Allgäuer Alpen des Ostrach- und Lechgebietes (letzteres vom Anfang seiner nördlichen Richtung an gerechnet), südwärts öffnen sich die dunkeln Waldtäler der tiroler Lechalpen, ziehen sich ihre langen gestreckten Seitenzweige nach dem Zentralkamme am Inn und im Stanzer Tale. Auch ostwärts ist die Fernsicht nur durch die schmalen, aufeinandergedrückten Spitzen unserer eigenen Kette beschränkt, sonst auf die bayerischen und nordtiroler Alpen frei geöffnet. Aus der Trümmerwüste im Kessel zwischen unserem Gipfel und dem Krottenkopf blickt der uns bereits bekannte kleine See mit seinem tiefgrünen Wasserspiegel ernst zu unserer Höhe herauf. -
 

Die Ersteigung des Marchspitzes gehört zu den schwierigsten Bergpartien und wird auch als solch angesehen; der Müller Lechleitner in Hinter-Hornbach, welcher diese Berge am genauesten kennt, hält sie für die schlimmste im ganzen benachbarten Gebirge. Er war es, welcher bei der geometrischen Vermessung die Signalstange dort oben aufsteckte.
Mir steht der Marchspitz in besonders übler Erinnerung, da ich den ganzen Felskessel nach einer stürmischen Nacht übereist antraf, die Geröllstreifen zu einer steinharten, glatten Masse verkittet, die festen Stufen und Vorsprünge des Felsens mit glasheller Eiskruste überzogen; ohne Steigeisen wäre jeder Halt auf solchem Boden unmöglich gewesen, da der Behelf des Anklammerns mit den Händen vollständig wegfiel. Ein brüllender Sturmwind, dessen heftige und unvermutete Überfälle an schmalen Stellen alle Vorsicht in Anspruch nahmen, vervollständigte die eben nicht beneidenswerte Situation.
 

Von Hinter-Hornbach nimmt die Ersteigung zwischen 4 unc 5 Stunden in Anspruch; davon kommen 1 ½ Stunden auf den Weg bis zur Peters-Alpe, 2 von da bis auf die Höhe der „March“ und gegen 1 ½ auf die Ersteigung des Gipfels. Der Abstieg von der Felspyramide selbst ist bei den Schwierigkeiten, welche dieselbe bietet, jedenfalls auf der gleichen Linie zu nehmen, welche dem Anstiege diente.
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung „Die Marchspitze (Der Ilfenspitze)“ aus dem "Allgäuer Wegweiser" von Hermann von Barth (06. September 1869) im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind aus der Veröffentlichung in dem Werk "Gesammelte Schriften" von Bünsch / Rohrer (1926) übernommen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Es handelt sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden aktuelle "Bergnamen" - sofern nicht bereits durch Bünsch / Rohrer geändert - ergänzt und gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefaßt.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
Glossar:
[1] Rekognition: (lat. Recognitio) das Wiedererkennen, Prüfung, Identifzieren, Aufkärung (veraltet) (Quelle: Duden.de) -->zurück