Die Krottenköpfe (Gr. Krottenkopf, Öfnerspitze, Krottenspitze)
von und mit Hermann von Barth (aus den „Nördlichen Kalkalpen“ August 1869)

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
 

angefertigtes Horizontalprofil der Krottenköpfe von Hermann von Barth "Welches ist der Kulminationspunkt [1] der Allgäuer Alpen?" – "Die Mädelegabel" – so mochte die Antwort auf jene Frage bis in die neueste Zeit lauten, obwohl bereits in Dr. Ruthners Beschreibung seiner Mädelegabelersteigung (Jahrbuch des Österr. Alpen-Vereins, Bd. v. 150) eine gegenteilige Andeutung sich findet. Im oberen Illertale freilich wird der Augenschein jener Annahme Recht geben; der Rahmen, der für Sonthofen und seine Umgebung das Quellengebirge der Iller abschließt, in dessen Mitte die Doppelspitze der Mädelegabel thront, ist zu enge geschlossen, daß die rivalisierende Gebirgsgruppe im Osten zur erfolgreichen Geltung gelangen könnte; wohl zeigen sich ihre eigentümlich geformten Spitzen über den Bergrücken des Fürschießer und der Kegelköpfe, sie verändern ihren Standort und wechseln in ihrer Gruppierung, während die Strasse nach Oberstdorf den Wanderer dem Fuße des Hochgebirges näher bringt. Jenseits Fischen sind sie bereits völlig verschwunden; sie erscheinen dem Ersteiger des Mädelejochs wieder über der Ausmündung des Sperrbachtobels, ein starres, trotziges Spitzenpaar, verbunden unter sich durch flache Sattellinie und damit gleichsam den Bergsteiger höhnend, der eben in diese bequeme Verbindungsstrasse nicht gelangen kann, er hätte denn zuvor die eine oder andere der zacken- und mauerumpanzerten Spitzen erstiegen.

Noch fehlt der Dritte im Bunde; er zeigt sich erst jenseits des Grates am Mädelejoch, ein gewaltiger Felsenrücken, und hoch blickt er den Besuchern der Mädelegabel nach und behauptet sein Übergewicht über sie auch dann noch, wenn die letzte Gipfelhöhe erklommen. Betrachte dir aber einmal die Allgäuer Gebirgskette dort, wo sie in weiterem Umkreise, gegen Osten namentlich, sich erschließt, von der Iller unterhalb Immenstadt aus, wo die zweimalige Biegung des Tales Raum für einen erweiterten und umfassenderen Ausblick geschaffen hat. Da wird es wohl alle Unerschütterlichkeit des dogmatischen Herrscherranges der Mädelegabel bedürfen, um nicht aufmerksam zu werden auf die Gipfelgruppe östlich von ihr, aus welcher ein zuckerhutförmiger Felskegel zu überraschender Höhe emporspringt und einen blendend weißen, hinter dem Grate sich verlierenden Firnstreifen an seiner Nordseite weist. Das sind die Krottenköpfe, an den Knotenpunkt des Iller- und Hornbachgebietes gestellt und in ihrer Gesamtheit diesen Knotenpunkt ausmachend, obwohl keines der Gipfelhäupter ihn für sich allein beanspruchen kann. Mit der Namenskenntnis dieser Gruppe im Allgemeinen ist die Bekanntschaft des Allgäuers und des Allgäuer Bergtouristen mit ihr auch ziemlich abgeschlossen; sobald sie als auffällige zusammengehörende Gruppe zu erscheinen aufgehört, fällt es schwer, den Leuten, welche man über sie ausfragt, auch nur über die Stellung und die Bedeutung der Spitzen zu verständigen, welche man im Sinne hat; auf der Obermädele-Alp, wo sie wieder groß und gewaltig vor Augen stehen, erfährt man gar Nichts. Man hört wohl auch oberflächlich erzählen, "Einer" der Krottenköpfe sei unersteigbar, welcher dieses sei, darüber empfängt man selbstverständlich keine nähere Aufklärung; es ist dies auch vollendeter Unsinn. Um den Hauptgipfel für unersteigbar zu halten, muss man ihn überhaupt von der einzigen Nordseite und auch von dieser nicht nahe genug gesehen haben, um das trigonometrische Signal auf seinem Scheitel zu erblicken. Die anderen, durch den Sattel verbundenen Spitzen sind entweder beide unbesteigbar, oder beide besteigbar und natürlich ist das letztere der Fall.

Dass ich eines schönen Nachmittags an der Obermädele-Alp vorbeispazierte, in den Abendstunden den einen und am folgenden Morgen die beiden anderen Spitzen abkappte, dann auf Nimmerwiedersehen über den Trettachferner weg ins Bacher Loch verschwand, war leicht begreiflicher Weise nicht geeignet, seinem Resultate nach in der Erinnerung der Leute haften zu bleiben; erst seit den epochemachenden Arbeiten Waltenbergers über das Allgäuer Gebirge, beginnen die Krottenköpfe dem großen Publikum etwas mundgerechter zu werden und allmählich langsam in den ihnen gebührenden Rang einzutreten. Immer aber zieht es noch die Bergsteiger vom Mädelepaß westlich, immer noch bildet die Mädelegabel den Magnetberg, von welchem abzulenken ihnen geradezu unmöglich zu sein scheint. Und doch bedürfte es weiter Nichts, als links zu gehen vom Mädelepaß, statt rechts, so befände man sich in gleicher Zeit, ohne irgend größere Schwierigkeit, ja sogar ohne die Hindernisse, wie z.B. die Steilhänge und der scharfe Grat der Schwarzmilz sie bieten, statt auf der Mädelegabel auf dem Kulminationspunkte der Allgäuer Alpen. Ich war so frei und ging einmal links.
 

Einige orographische [2] Notizen über die Stellung der Krottenköpfe und ihre Benennungen möchten als Einleitung am Platze sein. Bekanntlich sinkt von der Mädelegabel der Hauptkamm des Allgäuer Gebirges in östlicher Richtung herab über das Kratzer Joch und den Kratzer zum Mädelejoch. In neuerlicher Hebung gegen Nordosten schließt sich der Felsrücken des Muttlerkopfes an einen zackigen Schrofengrat und dieser in wachsender Steigung an die Südwestkante der Öfnerspitze. Von ihrem Gipfel sinkt nordwärts eine Kante ab, welche durch einen flachen Sattel mit der Krottenspitze sich verbindet; der Körper der letzteren kehrt sich bereits gegen Nordwesten und stürzt in dieser Richtung fast senkrecht auf den Scheidekamm zwischen Sperrbach- und Trauchbachtal ab, der, anfangs noch zackig, bald in die gerade Scheitellinie des Fürschießer übergeht. Die südöstliche Kante der Öfnerspitze dagegen verläuft in einen hohen, gegen Nord und Nordost steilwandig abstürzenden, von Westen her von den Schuttfeldern eines in südwestlicher Richtung aufgeschlossenen Kars fast erreichten Felsgrates, der einen weiten Halbkreis von Nord nach Ost und Süd beschreibt.

Eine minder beträchtliche Erhebung in der Mitte dieses Bogens bezeichnet den Ablösungspunkt der Hornbacher Kette, die nicht weit von den Krottenköpfen zu ihrem ersten bedeutenden Gipfel, dem "Ilfenspitz", auch Marchspitz genannt, sich erhebt. An das südliche Ende des Bogens, der Öfnerspitze wieder gerade gegenüber, tritt mit senkrechter Wand von ca. 1000' (ca. 300 m) Höhe der Hauptgipfel der Krottenköpfe [3] . - Er steht, wie der Hochvogel, außerhalb des wasserscheidenden Kammes - als erster Gipfel auf dem Seitenaste, welcher über den Felsrücken des Karrerjochspitzes (Ramstallkopfes) und des Strahlkopfes zur Pyramide des Rothorn gegen Süden hinauszieht, dann umgebogen gegen Osten das Bernhardstal bis zu seiner Ausmündung gegen den Lech, bei Elbigenalp begleitet. Eine breite Schulter setzt der gewaltige Kegel gegen Osten, ins höchstgelegene Kar dieses Tales nieder und von der Einsattelung, welche dieser Seitenbau gegen das Gipfelhaupt hin bildet, schießt das bereits erwähnte Firnfeld in nördlicher Richtung herab; durch den Grat der Hornbacherkette erscheint es - vom Illertale und den nördlich gelegenen Gebirgen aus gesehen - in seiner untern Hälfte abgeschnitten. - - -
 

In den Morgenstunden des 24. August 1869 trug mich der schwerfällige Postomnibus die Illertalstraße über Fischen hinauf nach Oberstdorf. Obwohl es etwas spät war für eine Bergersteigung, die an den Grenzen des Illerquellengebietes unternommen werden sollte, dachte ich immerhin noch das eine und bedeutendste Haupt der Gipfelgruppe, auf welche es diessmal abgesehen war, in einem Zuge von Sonthofen her zu gewinnen, um mit den beiden anderen Tags darauf um so schneller fertig zu werden und womöglich noch irgend welches Nebengeschäft abmachen zu können.
 

Um ½ 9 Uhr verließ ich Oberstdorf und wanderte ins Trettachtal hinein; nach 1 ½ Std. war die Spielmannsau erreicht und hier hielt ich noch kurze Erfrischungsrast. Die Erkundigungen über den Zustand des Sperrbachtobels, für dessen Passierung die Jahreszeit schon etwas vorgerückt war, ergaben kein sonderlich günstiges Resultat. Es hieß, die Lawinenschnee-Brücke sei nicht mehr passierbar, teilweise bereits eingebrochen, erst vor wenigen Tagen sei beim Betreten derselben Jemand in den Bach hinabgefallen; wie gewöhnlich, ohne weitere schlimmere Folgen, da ihrer mehrere waren und der Verunglückte wieder heraufgezogen werden konnte. Allein hindurchzugehen, wurde mir entschieden mißraten. Ich gedachte übrigens doch, erst selbst nachzusehen; war die Brücke vor einigen Tagen bereits eingebrochen, so stand nach der Hitze und den Gewitterregen der jüngsten Zeit von ihr wohl nur wenig mehr; zweimal bereits war ich auf dem Schneegewölbe durch den Sperrbachtobel gegangen, das drittemal konnte ich der Abwechslung halber etwa unter seinen Ruinen hinweggehen.

So setzte ich denn um ½ 11 Uhr den Marsch fort, über die Talwiesen zum "Unteren Knie", dann talein den herrlichen Waldweg hoch über der Trettach bis zur Ausmündung der Sperrbachschlucht; weiterhin den Zickzackpfad über die steilen Grashänge hinauf zur kleinen Kapelle des "Oberen Knie". Hier sah ich unterhalb des Weges Leute mit der Heuernte beschäftigt. Alle hatten Eisen an den Füßen, denn ihre Arbeit führte sie an den jähen Lahnen [4] umher, die wenig Schritte weiter von den Wänden der Sperrbachschlucht abgeschnitten werden; mit den Rechen ziehen sie das abgemähte Gras in kleinen Partieen nach gesicherteren Plätzen, um es von diesen in schweren Lasten auf dem Kopfe wegzutragen. Ich stieg etwas zu ihnen hinunter und befragte sie nach dem Sperrbachtobel. Der Schnee, hieß es, sei völlig eingebrochen, das Passieren ganz und gar unmöglich. Ersteres hörte ich gar nicht ungern und erlaubte mir die daran geknüpfte Schlußfolgerung umsomehr zu bezweifeln, als derselben die Bemerkung beigefügt wurde "wenn ich einen Führer nähme, ging es vielleicht" – vielleicht geht es auch ohne Führer.
 

Über die Wiesen der Sperrbach-Alpe wanderte ich talein, überschritt den Bach, der hier für kurze Strecke freies, flaches Bett hat, und stieg die steinigen Grashänge zur Sperrbach-Hütte hinan. Unerwartet traf ich hier Gesellschaft. Ein älterer Herr und seine Ehehälfte, augenscheinlich botanisierend, holten stellenweise das rote Reisehandbuch hervor und lugten offenbar unbefriedigt herum. Ich erfuhr bald, daß sie den Sperrbachtobel zu sehen wünschten, aber vorerst die Sperrbach-Hütte gar nicht finden könnten, an welcher der Weg doch vorbeiführen sollte. Das glaubte ich ihnen gerne, denn dieses niedrige, alte Bretterwerk mitten in Stein- und Felsgetrümmer kann dem ungeübten Auge auf 20 Schritte Entfernung unbemerkbar bleiben. Etwas emporsteigend und die kreuz und quer verlaufenden Viehpfade unberücksichtigt lassend, bis wir den Hauptsteig wieder gewonnen hatten, bekamen wir rasch die halb verfallene Baracke in Sicht und auch bereits die Steilwände - welche vom Fürschießer einerseits, vom Mädelekopf andererseits abstürzend - den Tallauf einengen und den Sperrbachtobel bilden; alljährlich füllen die Lawinen des Winters seinen Grund bis zu beträchtlicher Höhe aus; die erwachenden Gewässer des Sommers müssen ihren Lauf durch sie sich erst bahnen und brechen am untern Ende der Schneemasse aus dunklem Tore hervor. Eine vorspringende Bergecke hinderte noch den Einblick auf die Lawine selbst, auf ihr Gewölbe und seinen dermaligen Zustand.
 

Gespannt schritten wir den schmalen Bergpfad, der wieder ziemlich hoch über dem Bache sich hält, dahin, die Fremden begierig, den vielgerühmten Sperrbachtobel und sein Lawinentor zu schauen - ich, über die Möglichkeit der Fortsetzung meines Weges mich zu vergewissern. Die sperrende Bergrippe trat zurück und öffnete die Felsschlucht unserem Blicke; ich wusste, was ich zu wissen brauchte, daß nämlich von Unpassierbarkeit keine Rede sei, und meine beiden Begleiter waren entzückt über den wildgroßartigen Anblick, der ihnen sich darbot. Das Schneegewölbe, das sonst in schmutzig-grauer Decke, von düstern Wänden umrahmt, mit pechschwarzem Torbogen dem Ankömmling entgegen gähnt, war gebrochen, Licht war in die selten erhellte Tiefe der Schlucht gedrungen und zeigte das wirre Getrümmer der Felsblöcke und zusammengestürzten Eisschollen, braungrau auf ihrer alten Oberfläche und hell bläulichweiß auf dem frischen Bruche; zwischendurch schäumte der Bach in milchigen Kaskaden herunter. Zwei Überreste des Gewölbes, mächtige Tore von 20-25' (ca. 3 - 7,5 m) Höhe und einigen 40' (ca. 12 m) Spannweite waren hintereinander stehen geblieben und erhöhten den gewaltigen Eindruck dieses Bildes der Zerstörung.
 

Die Fremden zeigten zwar einiges Bedenken meinem Vorhaben gegenüber, durch dieses Chaos hindurch zu marschieren, und meinten, die beiden letzten Brücken könnten wohl ebenfalls noch einbrechen; ich war damit freilich einverstanden, dachte jedoch, sie würden damit auch warten können, bis ich hindurch sei. Wir drangen gemeinsam über die Trümmer der Talsohle bis an's erste Gewölbe vor, dann aber kehrten meine Begleiter um; ich ging mit ihnen noch zurück, so weit das pfadlose Blockwerk und der enge Weg am Berggehänge gegen die Sperrbach-Hütte reichte; eilte dann im Laufschritte zurück zum Sperrbach und bevor jenen der Sperrbachtobel aus dem Gesichte entschwand, war ich schon unter der ersten Brücke durch und aus den Eisklippen heraus schallten ihnen ein paar helle Jauchzer nach ins Freie.
 

Wieder öffnete sich vor mir eine dunkle Wölbung; den Vorschriften folgend, welche den Nordpolfahrer in gefahrdrohender Nähe der Eisberge leiten, schritt ich, ebenso wie unter der ersten, möglichst lautlos hindurch und empfing - wie das erstmal - von der abschmelzenden Decke herab einen Platzregen, der den Besitz eines Parapluie [5] für diese wenigen Schritte sehr wünschenswert gemacht hätte.
 

Dann öffnete und weitete sich der Tobel; näher rückte die prachtvoll kahle Kegelgestalt des Muttlerkopfs, die so überraschend großartig, so unnahbar isoliert in die obere Lichtung des Sperrbachtobels sich hineinstellt, daß ich bei ihrem ersten Anblicke (als ich Mitte Juni die Mädelegabel besuchte) in ihr sofort den "unbesteigbaren" Krottenkopf zu erkennen glaubte. Die Täuschung währte allerdings nur bis zum Betreten des Alpbeckens von Ober-Mädele; dann bekam ich wohl die rechten Krottenköpfe zu Gesicht.
 

Das endlose Getrümmer, die kotigen Geschiebe des Grabens blieben hinter mir. Am Wasserfalle vorüber, der vom Fuße der Fürschießer-Abhänge hervorbricht, trat ich auf die grünen Becken der Obermädele-Alp aus. Hoch winkte von der Weideterrasse herab die geräumige Hütte, ich gedachte jedoch erst bei sinkendem Tage dort zuzusprechen und für jetzt die geradeste Linie nach meinem Ziele, zunächst dem Mädelejoch einzuhalten.
Durch hohes Gras, durch Gebüsche blauen Eisenhutes, schlängelt der Pfad sich hinauf zur Paßhöhe. Die innern Schuttfelder des weiten Alpenkessels, an den Fuß der Wände gelehnt, die von der Krotten-, der Öfnerspitze und von ihrer Sattelverbindung niederstürzen, bleiben zur Linken, die Alphütte und die hohe Felsgestalt des Kratzer, der ihre Wiesengründe beherrscht, zur Rechten zurück. Heran treten die welligen Kuppen des Kammscheitels, durch eine breite Geröllgasse leitet der Steig zu ihrer tiefsten Depression [6] empor, die Lechtaler Alpen heben ihre grauen Hörner in den Himmel hinein und vor den Füßen breitet sich ein wogendes Meer von Stein dahin, den Südfuß des Kratzers als mächtig breite, etwas eingedrückte Bergstufe umsäumend.
 

Gr. Krottenkopf aus einem Panorama von Dr. A. Sattler 1880 - Quelle: Gesammelte Schriften v. Bünsch/Rohrer Links steht der Große Krottenkopf, zu gewaltiger Höhe aufgekrümmt; das Vermessungssignal auf seinem Gipfel ist bereits mit freiem Auge zu erkennen. Südlich an ihn reiht sich ein zweiter, gewölbter Felsrücken, der auf grünem Bergsattel, dem Karrerjoch (Karjoch), fußt; er darf demnach als Karrerjochspitz (Ramstallkopf) bezeichnet werden. Noch südlicher folgt ein kleiner, scharfer, nordwärts vorgeneigter Zacken, welcher in einen langgstreckten, grasbewachsenen Scheitel sich fortsetzt, der Strahlkopf, und endlich eine, obwohl noch hohe, doch ziemlich vegetationsreiche Bergpyramide, das Rothorn; von hier wendet dieser Seitenzweig sich gegen Osten, das Bernhardstal vom Lechtale zwischen Holzgau und Elbigenalp scheidend.

Zwischen dem Großen Krottenkopf und dem Karrerjochspitz (Ramstallkopf) und ebenso an der Südflanke des letzteren liegen ausgedehnte Schuttkare, die nach der Tiefe auf sehr breite, sanft abgedachte, wellig hügelige Bergterrassen von reichem Graswuchse sich verlieren. Vom Mädele-Paß und dem Steinmeere an der Südseite des Kratzer sind dieselben durch die tiefe Talschlucht des Heck- oder Höchbaches (Höhenbaches) getrennt, welcher im dritten großen Kare, im Norden des Großen Krottenkopfs, seinen Ursprung nimmt. Die Umrandung dieses weitgespannten, öden Bergkessels wurde bereits als die Kammverbindung zwischen dem Hauptgipfel der Krottenköpfe und der Öfnerspitze und als die Ablösungsstelle der Hornbacherkette erwähnt. Sie, sowie das Kar, welche sie umschließt, liegen dem Bergwanderer, der den Mädele-Paß überschreitet, ziemlich offen vor Augen; nicht so die Kammverbindung von letzterem selbst nach der Öfnerspitze und die Abhänge, welche sie den Anfängen der Höchbachschlucht (Höhenbachschlucht) zukehrt. Auch im weiteren Verfolge des Turistenweges nach der Mädelegabel gelangen die dortigen Verhältnisse nicht zu völlig klarer Anschauung, was einen mühevollen und zeitraubenden Irrgang mir verursachte, als ich, dem Großen Krottenkopfe zuwandernd, in's Kar an seinem westlichen Fuße einzulenken beabsichtigte.
 

Gegen ein Uhr überschritt ich auf dem gemeiniglich begangenen Jochwege bei Grenzstein Nr. 132 die Wasserscheide und zugleich die Grenze zwischen Bayern und Tirol; der Pfad zieht alsbald steil hinunter zum Höchbache (Höhenbach), ich dagegen dachte in horizontalem Quergange in's jenseitige Kar zu gelangen. Kaum aber war ich an gras- und krummholzbewachsenen Bergstufen einige hundert Schritte weit gegen Osten vorgedrungen, so sperrten mir Steilabstürze den Weg, ich suchte eine neue Verbindungslinie in größerer Tiefe, fand sie bald und hatte sie noch schneller wieder verloren, ging wieder abwärts, um ein zweites- und drittesmal die gleiche Täuschung zu erfahren und kam endlich tief unter der Pasßhöhe an den Höchbach (Höhenbach).

Anstatt der bescheidenen Anfänge eines Bergwässerchens, die ich zu treffen gedachte, fand ich an ihm bereits einen ganz ansehnlichen Sturzbach, der kellertief in die Felswände sein Bett sich eingerissen hat; erst nach abermaligem, längeren Absteigen gelang es mir, eine überschreitbare Stelle ausfindig zu machen und auf's jenseitige Ufer zu gelangen. Wechselnde Schutt- und Grasplätze dehnten sich vor mir zur Höhe; eine gewaltige Strecke war bis an den Fuss meines Gipfels hin zu bewältigen und eine voraussichtlich noch längere, jedenfalls anstrengendere, bis zum Schuttsattel zwischen ihm und dem Karrerjochspitz (Ramstallkopf) hinauf, von welchem die Ersteigung selbst erst zu beginnen hatte. Betrübten Sinnes blickte ich zur verlassenen Jochhöhe hinan und ermaß die Höhe, die verloren und erst wieder zu ersetzen war, bevor an weiteren Gewinn gedacht werden konnte.
 

Langsam ging's zwischen den Legföhrengebüschen der Wiesenstreifen, über die Schuttriesen und quer durch die Furchen trocken liegender, in den Höchbach (Höhenbach) einmündender Wasserrunsen wieder bergan. Langsam hob sich zu meiner Rechten das Terrain und gestattete allmählich wieder den Überblick der hügelreichen, grünen Terrassen, über welche ein deutlich ausgeprägter Pfad dahinzieht, wahrscheinlich der Höhe des Karrerjochs (Karjochs) zu und über dessen begrasten Rücken hinüber zu den Alpen am Südgehänge des Bernhardstals; langsamer noch rückten die starren Wände des Großen Krottenkopfs und des Karrerjochspitzes (Ramstallkopfes) mir näher und wies ein Rückblick auf den Mädele-Paß den zunehmenden Ersatz des Höhenverlustes nach. Jetzt lag auch die Kammstrecke vom Joche bis zum Anschlusse an die Krottenköpfe entfaltet vor meinen Augen. Ich erkannte, daß an ein Durchdringen in gerader Querlinie kaum zu denken war, und daß ich, um das innerste Kar des Höchbaches (Höhenbaches) zu gewinnen, weit besser daran getan hätte, vom Joche weg den Kammscheitel zu verfolgen und erst in der Nähe des Muttlerkopfes die Südflanke des Gebirges zu betreten. Damit war es nun freilich zu spät.

Spärlicher wurde der Graswuchs unter meinen Tritten, der Schotter begann sein Vorrecht in der Hoch-Zone geltend zu machen. Von Rechts und Links traten die vorgerückten Strebepfeiler der Gipfelmassive an meine Seiten und das Kar, dessen kulminirenden Sattel ([Krottenkopfscharte]) ich zu ersteigen hatte, nahm seinen Anfang. In einer Breite von mehreren hundert Schritten zieht es sich zwischen dem Großen Krottenkopf und dem Karrerjochspitz (Ramstallkopf) hinan, und namentlich der letztere kehrt ihm Steilwände von eindrucksvoller Wildheit und Zerklüftung entgegen. Aus den schroffen Flanken des Großen Krottenkopfes dagegen münden mehrere Trümmerschluchten herab und vermischen ihre trockenen Fluten mit denen der Hauptmulde. In etwa der Mitte ihrer Höhe ist die allmähliche Hebung des Bodens durch eine ziemlich enggeschlossene Reihenfolge steiler Absätze unterbrochen. Es gelang mir ohne Mühe einen geräumigen, durch dieselben hinaufleitenden Einschnitt zu entdecken; umso mehr Mühe aber kostete seine Ersteigung; sei es, daß sein loser Trümmerboden wirklich ausnahmsweise ungünstige Verhältnisse bot, sei es, was wahrscheinlicher anzunehmen, daß der weite Weg, der vor Beginn der eigentlichen Ersteigung zurückzulegen war, die Körperkräfte bereits allzu stark in Anspruch genommen hatte, kurz, ich erinnere mich kaum jemals so mühselig, in so elendiglichem Schneckentempo, und mit so keuchender Anstrengung einen Gipfel hinauf gekrochen zu sein, wie den Großen Krottenkopf; zuweilen blieb ich im zurückfließenden Schutte wohl gar minutenlang stecken und glaubte überhaupt nicht mehr vorwärts kommen zu können. Aber alles nimmt ein Ende und so öffnete sich denn schließlich auch der Graben in jenem verwünschten Kar.
 

Die Sattelhöhe stand mir nun zwar nicht nahe, aber doch in abschätzbarer Entfernung vor Augen. Feinkiesiger, fester Boden, mit fast verdorrtem, kurzen Rasen bewachsen, gab bessere Bahn und gestattete mir ein sicheres und rascheres Auftreten; aber die Elastizität des Ansteigens war nun einmal gründlich weg und auch das drohend im Westen sich ballende und heraufziehende Gewölk vermochte den Schritt nicht zu beschleunigen.

Um drei Uhr nachmittags betrat ich den Sattel: vor mir ein tiefer, steiniger Bergkessel, in welchen von der Kammhöhe weg jähes Geschröf, mittendurch ein breiter, wohl gangbarer Schutteinriß sich absenkt; sein innerster Winkel, unter den Mauern der beginnenden Hornbacher Kette gelegen, ist mir durch den zur Linken stehenden Körper des Großen Krottenkopfes gedeckt. Abwärts verliert er sich, um einige starke Terrassenstufen fallend, in südöstlicher Wendung zur Tiefe des Bernhardstales.
 

Jenseits dieser Mulde steht eine Riesengestalt von regelmässig kühnem Baue mir gegenüber: eine steile Pyramide mit schmal gerundetem Haupt, südwärts einige Zweigrippen in's Kar, und einen langen Seitenkamm als nordöstliche Schranke des Bernhardstales entsendend; alles nackte Felsmasse, prächtig gezeichnet von den Parallelbändern stark aufgerichteter Schichten, deren Enden auf der Gratschneide gleich Sägezähnen emporstarren. Zackig und zerrissen zieht ihre Westkante zum Hauptgrate herab; jäh fällt ihre Nordflanke, an welcher ein paar Schneefelder glänzen, gegen die March. Es ist der Ilfenspitz (Marchspitz), der hier so abschreckend diejenige Seite mir zuwendet, von welcher er seinerzeit wird erstiegen werden müssen; denn auch aus andern Weltgegenden habe ich ihn beobachtet und weiß, daß er gegen Westen, seiner Gratkante nach, allein einen gangbaren Neigungswinkel zeigt.

Links gewendet ging's nun am Großen Krottenkopfe selbst hinan, einen breiten, mäßig gehobenen Felsrücken, Schutt und Getrümmer in seltener Abwechselung mit kleinen Plätzen ersterbenden Rasens; zur Linken blieb mir ein ziemlich tiefer, auf das Kar, das ich vorher durchstiegen, ausmündender Geröllgraben. Der Karrerjochspitz (Ramstallkopf), der auf dem Sattel noch mit gewaltigen Steinmauern mich überragt hatte, verlor zusehends an Höhe und stand bald in gleichem Niveau mit mir; der Gipfel dagegen, welchen ich anstieg, wollte noch lange keine Nähe des Zieles verraten; es ließ überhaupt nur eine kurze Strecke seiner Abhänge jeweils überblicken, Felsstufen und gehäuftes Blockwerk in regellosem Durcheinander und so sehr in die Breite gedehnt, daß die Linie des Bergrückens mitunter kaum bemerkbar daraus hervortrat.
 

historische Ansichtskarte mit dem Gr. Krottenkopf aus dem Hermannskar Endlich schien das Gipfelmassiv nach der Höhe sich zu teilen, ein flach eingedrückter Sattel wurde sichtbar, links davon Schrofenzacken, scheinbar auslaufend und absinkend, rechts eine mächtig aufgewölbte, kahle Felskuppe. Eine kurze Weile glaubte ich in der Tat, den Gipfel in dieser Richtung vor mir zu haben, nahm aber den Irrtum, als ich der Höhengrenze näher kam, bald genug wahr: ich hatte weiter nichts, als die östliche Schulter des Großen Krottenkopfs vor Augen, deren Scheitel von der Einsattelung weg in wenig Minuten hätte erstiegen werden können, während eben links, wo unbedeutendes Schrofengezack sich zu verlieren schien, das wahre Haupt zu einer noch immer nicht ermeßbaren Höhe sich aufbaute. Ich trat in den Geröllsattel ein, durchschritt eine kleine, seinen Boden ausfüllende Schneemulde und blickte über deren wellig erhabene, nördliche Randkante hinaus; da lag vor mir das Firnfeld, das zum innersten Kar des Bernhardstales (Anmerkung: Im HornbachThale wird dieses Thal, vielleicht blos sein oberer, ausgebuchteter Theil, mit dem Namen IlfenThal belegt. ) hinunterschießt.

Oft schon hatte ich aus der Ferne diesen glänzenden Streifen im dunklen Gewände des Großen Krottenkopfes mir betrachtet; bevor ich ihn vom Mädelejoch aus zu sehen bekommen und seine leichte Ersteigbarkeit von der Südseite wahrgenommen hatte, war es sogar mein Plan gewesen, über diesen Firn hinauf den gewaltigen Kegel, in welchem ich den "unbesteigbaren Krottenkopf" zu erkennen dachte, zu bezwingen, in ähnlicher Weise, wie ja auch der Zugang zum Hochvogel durch solch ein steiles, von einer Felsenscharte herabhängendes Schneefeld vermittelt wird. Nun stand ich auf seinem Höhenrande und blickte die jähe Fläche hinunter, die zwischen finstere Mauern eingezwängt, mit ihrem Ende die Schutthalden des Ilfenkars (Hermannskars) berührt; und nun mochte ich's wohl zufrieden sein, einen anderen Weg nach dem Großen Krottenkopfe gefunden zu haben, als jenen. Enger als der "Kalte Winkel" am Hochvogel, von mindestens doppelter Länge und einem weit beträchtlicheren Neigungswinkel, der bis gegen 60° sich belaufen mag, lag vor mir ein Spiegel grauen Eises; unmöglich wäre das Unternehmen nicht zu nennen, mittels eines guten Pickels da herauf zu klettern, aber Schwierigkeit und Gefahr wäre mit ihm verbunden in einem Grade, welchem man nicht ungerne aus dem Wege geht ([Anmerkung: Die "Eisrinne" - in Wirklichkeit etwa 40° geneigt - wurde zum erstenmal am 11. September 1891 von Josef Enzensperger und Dr. Max Madlener al Anstiegsweg benutzt])

Düster schließen die klüftigen Mauern der Eisgasse sich auf nach der Tiefe; düster steht eine Reihe zerspaltener Zacken, echte Allgäuer Dolomitgebilde, ihnen im Norden gegenüber; Gerölllehnen, ohne eines Gräschen Grün gießen von ihren Fundamenten sich herab und strahlen nach der Mitte des todesstarren Kessels zusammen. Und dieses Zentrum erfüllt – ein See [Hermannskarsee]; ein kleiner, runder Wasserspiegel, grün durch alle Schattierungen dieser Farbe, vom hellen Tone der aufkeimenden Pflanzen bis zum tiefsten, schwärzesten Alizarin [7] ; – nicht ein leiser Anflug von Blau in dieser Wasserfärbung.

Ein unvergleichliches Bild! Wer mag ihn schon erblickt haben, diesen Smaragd in seiner Fassung von Stein! Ein Hüter der March vielleicht, der zum Zeitvertreib auf eine Scharte des Grates hinaufkletterte, der Gemsenjäger, der bis in diese letzten Schlupfwinkel das scheue Wild verfolgte, die Arbeiter, welche auf dem Großen Krottenkopfe das Signal errichteten – sonst wohl Niemand.
 

Die Krottenköpfe von Westen -  Litographie im Kalkalpen-Buche nach Zeichnung von Hermann v. Barth  Quelle: Gesammelte Schriften v. Bünsch/Rohrer Nordöstlich gewendet begann ich den letzten Anstieg an's Gipfelhaupt; einige hohe Felsabsätze stellten sich mir noch entgegen, breite, schuttbedeckte Bänder leiteten an der südlichen Bergflanke in die Quere, das Aufsuchen gangbarer Verbindungstreppen und kleiner Einrisse gestattend. Nachdem die untersten Steilstufen überwunden waren, zeigte die Gratkante selbst den weiteren Weg; über die zertrümmerte, stellenweise etwas engstufige Felstreppe ging's höher und luftiger empor; es war hohe Zeit, daß ein Abschluß wurde - ich hatte das Steigen gerade genug; mühsam Atem holend stolperte ich erschöpft und kraftlos die Schrofen hinauf. Sie weiteten sich endlich zu einem schuttbedeckten Plätzchen, auf ihm steht, in einen massiven Steinsockel eingefügt, der Signalpfahl. Einige Schritte noch - und das Ziel des Tages ist erreicht; der Jauchzer aber, der über die Kare weg zur Mädele-Alp hinüberfliegen sollte, blieb mir in der Kehle stecken.
Die seit langer Zeit notwendige und in der Hoffnung auf baldige Erreichung des Zieles immer wieder verschobene Rast, ein warmer, schwarzer Kaffee - als Verdauungsbehelf für ein nicht eingenommenes Mittagessen - hatten mich jedoch bald wieder hergestellt, und weder der Aussichtsgenuß wurde beeinträchtigt, noch brauchte ich Sorgen mich hinzugeben bezüglich des Rückweges nach der Mädele-Alp.
An und für sich ist auch der Große Krottenkopf durchaus keine anstrengende Partie, am allerwenigsten, wenn man diese Ersteigung von der Obermädele-Alp antritt, auf welcher ja auch die Mädelegabel-Besteiger zu übernachten pflegen; ich glaube alsdann kaum mehr als 2 ½ Stunden für dieselbe in Rechnung bringen zu dürfen. Meine Ersteigung währte allerdings eine Stunde länger, wobei eben der Irrgang in die Tiefe der Höchbachschlucht (Höhenbachschlucht) und das langsame Vordringen im schlecht gangbaren Kar bei bereits eingetretener Ermüdung in Anschlag kommt.

Obwohl ich erst zu später Nachmittagszeit auf meinem Gipfel anlangte (gegen ½ 5 Uhr), war doch die Aussicht, zur Hälfte des Rundkreises wenigstens, ungetrübt geblieben. Im Westen freilich hatte alles in Wolkenballen sich gehüllt, eine schwarze Wand stand dort in nächster Nachbarschaft mir gegenüber und nicht für einen Moment trat die Mädelegabel-Gruppe aus ihrer Verhüllung hervor, was ich in mehrfacher Hinsicht bedauerte. Die anfängliche Besorgnis jedoch, das Gewölke möchte bald auch meinen eigenen Gipfel umfangen und dann jeder Ausblick verschlossen sein, erwies sich als unbegründet. Aus dem Ober-Lechtale zog eine entschiedene Ostströmung reiner, trockener Luft jenem Wolkenheere entgegen, und so oft seine Korps gegen die Öfnerspitze, gegen das Karrerjoch (Karjoch) heranstürmten und in's Hornbach- und Bernhardstal vorzudringen versuchten, wurden sie, kaum daß sie die ersten Vorteile errungen, einige zerstreute Vorposten in's jenseitige Gebiet entsendet hatten, von der feindlichen Strömung gefaßt und im wahren Sinne des Wortes "in Auflösung zurückgeworfen". So hatte ich denn, während im Westen selbst die nächste Umgebung mir verborgen blieb, gegen Osten vollkommen freie Aussicht und übersah den Gletscherrand des südöstlichen Horizontes, all die Firnpyramiden und Eisdome der Ötztaler und Stubaier, wahrscheinlich auch noch der Duxer (Tuxer) und Zillertaler Ferner um so schärfer und klarer, als bei sinkender Sonne mein Beobachtungspunkt gar bald in den Schatten der Wolken sich hüllte, während das entferntere Panorama in hellem Sonnenglanze strahlte. Näher standen mir die Lechalpen, andere Gipfel, andere Täler, als ich am Biberkopf und Hohen Licht mir gegenüber gesehen. – Im Norden das Lechgebiet der Allgäuer Alpen, gewaltig beherrscht vom Hochvogel, dem alten Bekannten.

– Im Osten drängen sich die Hornbacher Gipfel aufeinander; schwer lassen sich in diesem grauen zackenstarrenden Klumpen die einzelnen Gestalten unterscheiden, nur der Urbeleskarspitz, an den scheinbaren Schluß dieser Reihe gestellt, erhebt mächtig sein spitzes Dreieck, und der Marchspitz weist seine zahnige Schneide herüber und die mauergetrennten Schneeplanken seiner Nordseite. – Mein südlicher Nachbar, der Ramstallkopf, liegt unter mir, seine Höhe mag kaum 7800 Fuß (ca. 2.534m) betragen; er deckt einen Teil des gegen das Lechtal auslaufenden Kammes, welcher infolge seiner östlichen Umbiegung alsbald an der linken Seite des ersteren wieder erscheint; auf dem grünen Rücken fällt ein Haufen enge zusammengebauter Heuhütten in die Augen, an seiner Seite ist ein quer durchlaufender Pfad bemerkbar, wahrscheinlich der gleiche, welcher über das Karjoch herüberführt. Im Norden sehe ich zu meinen Füßen das weite, in seinen oberen, flachen Becken völlig vegetationslose Kar, aus welchem der Höchbach (Höhenbach) seinen Ursprung nimmt und dessen Umrandung, vom Fuße des Großen Krottenkopfs zur Öfnerspitze hinüberziehend, den Anschlußpunkt der Hornbacher Kette in sich faßt (Anmerkung: Wie bereits erwähnt, erfolgt dieser Anschluß inmitten des Bogens, welcher von der Öfnerspitze zum Großen Krottenkopfe sich herüberzieht. Der Anschlußpunkt ist durch einen Gipfel zweiten Ranges bezeichnet (Hornbachspitze 2.533 m), welcher von Westen, aus dem Kar des Höhenbaches leicht zu ersteigen wäre.). Der Große Krottenkopf selbst stürzt in jener Richtung vom Gipfel weg nicht augenblicks so mauersteil ab, wie die Ansicht, welche er vom Norden her bietet, dies etwa vermuten lassen möchte. Ich ging den Schrofengrat 40 - 50 Schritte weit nördlich hinab, ohne noch auf die eigentliche Steilwand zu treffen.
 

tiefgrüner Hermannskarsee vom Großen Krottenkopf herab © wanderpfa.de Eine Stunde Aufenthalts war verflossen, und es schien an der Zeit, den Rückweg anzutreten, wollte ich nicht, wie auf dem Hochvogel, auch auf dem Krottenkopfe übernachten; das Heulager der Mädele-Alp schien immerhin wünschenswerter und so stieg ich denn die Felsstufen der Gipfelkante wieder hinab zum Sattel, warf einen Abschiedsblick zurück auf das graue Firnfeld und den tiefgrünen Ilfensee (Hermannskarsee), und wandte mich alsdann, anstatt auf dem Bergrücken zu bleiben, dem Trümmergraben zu, der im Anstiege zu meiner Linken gelegen hatte. Ich kam in demselben rasch und ohne sonderliche Schwierigkeiten in's große Kar zurück, verfolgte dasselbe abwärts, aber natürlich nicht mehr bis an den Höchbach (Höhenbach) hinunter, sondern nur bis an den Fuß des Steilabfalles des Großen Krottenkopfes, an dessen auslaufenden Schrofenrippen ich alsbald den Quergang nach dem nördlich gelegenen Bergkessel – zwischen dem Großen Krottenkopfe und der Öfnerspitze – begann.
Eine Steilwand von einigen hundert Fuß Tiefe im Fundamente des ersteren hätte immerhin noch einen kleinen, abwärts greifenden Umweg erfordert, ich hielt mich statt dessen auf Grasplätzen, die quer in die Wand hinausweisen und als schmales, eine Strecke weit kaum fußbreites Band, überdies im Zickzack auf- und absteigend, über dem Absturze wegleiten. Auf bald wieder verbreitertem gangbaren Boden erreichte ich das jenseitige Kar und durchmaß in weitem Halbbogen seine wellige Mulde, zwischen deren Steinhügeln hie und da der Ursprung eines Wässerchens – eine Quelle des Höchbaches (Höhenbaches) – sprudelt. In sehr sanftem Anstiege kam ich am Fuße des Kammes an, der vom Mädelejoch nach der Öfnerspitze hinzieht, und wäre es Morgen gewesen, ich hätte den Besuch der Krottenköpfe mit der Besteigung der letzteren alsbald fortsetzen können; denn eben hier musste eine Stelle sich finden, über den Grat auf die schrofige Nordwestseite dieses Gipfels überzutreten.

Statt dessen eilte ich dem Nachtlager zu. An den Grasplätzen, auf Spuren betretener Wege kam ich rasch am Muttlerkopfe vorüber und überschritt, nachdem ich noch eine lange und steile Wiesenböschung hinabgestiegen - auf breitem, grünem Sattel den Grat; auch dieser Gebirgsübergang ist nicht ungebräuchlich, namentlich benützen ihn jene Leute, die über das Karrerjoch (Karjoch) in's Bernhardstal abzusteigen gedenken; er führt im Gegensatze zum gewöhnlich begangenen Mädele-Paß den Namen Obermädele-Paß oder -Joch.
Über die Hügelkuppen des Kammes wanderte ich dann weiter, der Alphütte zu; verweilte noch einige Minuten auf einem den Bergkessel beherrschenden Eckpunkte, die Abendlichter mir zu betrachten, welche durch Zwischenräume der schwer und schwarz hernieder hängenden Wolken grell auf die Wände der Krottenköpfe, auf die Steilhänge des Fürschießer fielen und mit Sicherheit auf einen günstigen Morgen schließen ließen. Als der letzte Schein erloschen war, stieg ich hinab zur Hütte, erfreute mich an einem Abend-Schmarrn und suchte baldigst das Heulager auf. Die Alpe war nahe daran, verlassen zu werden und der Vorrat an Futter daher nur gering - eben genug, um nicht auf den Brettern zu liegen -, die Nacht sehr kalt und infolge dessen höchst unbehaglich. Herzlich vergnügt sah ich die erste Morgenhelle durch die Ritzen des Stadels blicken, und verlor denn auch keine Zeit, aufzubrechen. Mehr im Scherze, als in der Erwartung, etwas Brauchbares zu erfahren, fragte ich die Hirten, wie wohl auf jenes sattelverbundene Spitzenpaar zu gelangen wäre, das hoch im Osten auf ihre Hütte herabschaut? – und erhielt natürlich die Antwort: "Da komme man gewiss gar nicht hinauf!"
 

Im frischen Morgengrau stieg ich wieder hinan zum Mädelejoch. Durch die Erfahrungen des vorhergehenden Tages gewitzigt, verließ ich bereits vor völliger Erreichung der Passhöhe den begangenen Weg und hielt mich in schrägem Quergange links, an den grünen, häufig durch Felsabsätze unterbrochenen Gehängen des Hügelkammes. Nach einer halben Stunde war ich am Obermädele-Paß, erstieg wieder die steile Graslahne, die von ihm in östlicher Richtung sich emporhebt, und überschritt am Fuße des Muttlerkopfes die Wasserscheide. Leicht wäre nun dieser Felsenrücken, der so imposant und unnahbar steil in den Sperrbachtobel hineinschaut, zu ersteigen, er hat aber, sobald seine wahre Gestalt und Stellung erkannt, auch allen weiteren Reiz verloren. Ich ließ ihn ruhig zur Linken, ebenso einen zweiten, bereits etwas höheren und schärferen Höcker, der östlich auf ihn im Grate folgt. Die weiten, weißen Schuttfelder des Ursprungskars des Höchbaches (Höhenbaches) kamen mir allmählich wieder in Sicht und der Zackenkreis ihrer Umrandung; zur Rechten stand mir der Große Krottenkopf, zu immer schlankerer Säulengestalt sich zusammenziehend, je mehr ich von der Nordseite ihn zu sehen bekam. Im Osten trat die Öfnerspitze wieder hervor, augenblicklich erkennbar an ihrer unvergleichlich fein und scharf zersägten Westkante, hinter deren Türmchen der eigentliche Gipfel sich bereits zurückgezogen hatte. Wie ich den letzten gewinnen sollte, darüber wusste ich nun freilich nicht viel mehr, als die Hirten der Obermädele-Alp, das obere, den unmittelbaren Gipfelbau zusammensetzende Geschröfe hatte ich auf der dem Alpenkessel zugekehrten Nordwestflanke mit Hilfe des Fernrohrs als ziemlich sicher gangbar beurteilen können - wie aber auf jene Plätze zu gelangen sei, die mit gewaltigen Steinwänden gegen die Tiefe abstürzen, das lag noch sehr im Ungewissen. Ich war zuletzt bei dem Plane stehen geblieben, von der Südseite her möglichst nahe an die Öfnerspitze heranzutreten und von hier aus einen Gratübergang zu versuchen; und dieser Plan war eben in Ausführung begriffen.
 

Die Weglinie, welche ich am Abende vorher quer durch das Kar verfolgt hatte, blieb mir allmählich zur Rechten; enger schloß ich mich an die Erhebungen des Grates an, die in schroffen, schwärzlichen Mauern aus den Schuttfeldern sich erhoben, welche die Richtung meines Pfades durchkreuzten. Mit zerborstenem Gezacke, klotzige Türmchen und zierlich geschärfte Nadeln tragend, hob vor mir die Kante der Öfnerspitze an. Es war Zeit, die Bergflanke zu wechseln. Die Schuttlehnen hinauf, aus welchen nur wenige plattige Felsbänke vorragten, sah ich mich in eine düstere, immer mehr sich verengende Gasse geleitet, von abenteuerlich gebildeten Schrofen überhangen; doch reichte der Schutt bis zum Grate hinan, der von torartiger Scharte durchbrochen wird. Mit ängstlicher Spannung trat ich, nachdem der ermüdende Anstieg vollendet, in diesen Mauerdurchlaß ein; ein Schritt auf die Scheitelkante – und steilfallendes Geschröf, keinesweg die gefürchtete Wand, tieft nach der Gegenseite sich ab; ein zweiter Schritt um die vorspringende Ecke zur Rechten – und schuttbedeckte Gesimse zeigen sich im Felsengehänge.
Ich hatte genug gesehen.
Da ich jedoch immerhin auf eine sehr scharte Klettertour gefaßt war, ließ ich in der Scharte alles entbehrliche Gepäck zurück und verzichtete sogar auf einen Morgenkaffee auf dem zu erhoffenden Gipfel. Der weitere Verlauf der Ersteigung erwies diese Vorsicht und Entsagung als höchst überflüssig.
 

Die gangbaren Bänder leiteten anfänglich etwas abwärts, ein vortretendes Steilmassiv umgehend, längs seiner schwarzen, stellenweise etwas überhängenden Mauern dahin. Bald eröffnete sich mir ein erweiterter Überblick des Terrains, es trug den echten Charakter des günstig geneigten, schrofigen Felsgehänges an sich und ein Gelingen des Unternehmens war jetzt bereits so gut wie sichergestellt. In der Sohle schuttbedeckter Rinnen bewegte ich mich meist eine Strecke weit gerade aufwärts, und wandte mich alsdann an den Gesimsen und Absätzen der rauhen Schrofen wieder quer durch nach neuen Einrissen; im Allgemeinen verfolgte ich eine schräg gegen Links ansteigende Linie. Bald sah ich mich dem geröllbedeckten, breiten Sattel, welche die Öfner- und Krottenspitze verbindet, gerade gegenüber, vermochte aber einer tiefen, in den Körper der ersteren einschneidenden Kluft wegen noch nicht auf denselben auszutreten; erst in beträchtlich größerer Höhe ließ die ausgeflachte Plattensohle auf schmalen Bändern sich kreuzen. Längs der nördlichen Pyramidenkante eilte ich nun der Spitze zu. Noch war ein kleiner Abfall gerundeter Felsstufen zu bewältigen, oben folgten wieder gebrochene Schrofentreppen; in zackigen Türmchen kommt von der rechten Seite die Westkante heraufgezogen, und vereinigt sich mit der nördlichen zum schmalen, aus zerspaltenen Klippen zusammengebauten Gipfelraume. Rascher und leichter, als ich erwartet, war ich am ersten Ziele angelangt. Kaum 2 ½ Stunden waren seit Aufbruch von der Alpe verflossen und nur 1 Stunde hatte die Ersteigung selbst, von der Scharte her, gewährt. Mit der vollen Behaglichkeit, die eine so baldige Sicherung des Erfolges des Tagewerkes verleiht – denn die Erreichung der Krottenspitze stand jetzt außer Frage, – überließ ich mit dem Genusse der Aussicht, welche in ungetrübter Morgenfrische vor mir ausgebreitet lag.

Den Hauptmoment derselben bildet das Hornbachtal, in dessen verlängerter Achse die Öfnerspitze eben gelegen ist. Dunkelbewaldet zieht es zwischen seinen hohen Umfassungsmauern hinaus zum Lech. Auf saftig grünen Wiesenterrassen liegen zerstreut die Häuser von Hinterhornbach; in's Innere des Gebirges, an den Fuß der Krottenköpfe heran, verliert das Tal als enge Spalte sich zwischen unnahbaren, finstern Wänden; einsam im düstern Grunde birgt sie das Hüttendörfchen der Peters-Alpen. Ein paar tausend Fuß höher liegt unmittelbar unter den Steilmauern der Öfnerspitze, ihrer Gratverbindung mit der Krottenspitze und dem Anschluße der Hornbacher Kette (Anmerkung: Wie bereits erwähnt, erfolgt dieser Anschluss inmitten des Bogens, welcher von der Oefnerspitze zum Grossen Krottenkopfe sich hinüberzieht. Der Anschlusspunkt ist durch einen Gipfel zweiten Ranges (Hornbachspitze) bezeichnet, welcher von Westen, aus dem Kar des Höchbaches leicht zu ersteigen wäre. ) das Hochplateau der "March", ein welliges Hügelland mit ziemlich reichlichem Graswuchse, umrandet von Schutthalden und Trümmerkesseln, in seiner Mitte durchschnitten von der Talspalte der Peters-Alpe. Im Westen dagegen fällt der Blick auf die prachtvoll gezeichneten Gipfelformen der Mädelegabel-Gruppe, voran der Obelisk der Trettachspitze, das Pyramidenpaar der Hauptgipfel, an ihrem Fuße die blendend weiße Decke des Trettachferners (Schwarzmilzferner). Über seinen scharf gegen die Horizont abgeschnittenen Höhenrand lugt zuckerhutförmig der Bockkarkopf herüber – eine hübsche Strecke dorthin, wenn ich heute dieses "Nebengeschäft" noch abmachen soll (und etwas derart liegt mir in der Tat im Sinne). Zu Füßen die Mädele-Alp, mit dem Fernglase erkenne ich die Sennen, um die Hütte herum beschäftigt, sie hören auf meine Jauchzer und antworten aus der Tiefe empor – wenn sie scharfe Augen haben, so mögen sie nun wissen, dass man auf die starren Wächter ihres Alpenkessels gar wohl hinaufkommen könne. – Ein Gegenstand in meiner nächsten Nachbarschaft erregte noch meine Aufmerksamkeit: eine im Getrümmer der Südseite etwa 20 Fuß (ca. 6 m) tief unter dem Gipfel liegende Signalstange, die ich herauf holte und so gut als möglich wieder aufpflanzte.
Nach einstündigem Aufenthalte verließ ich die Öfnerspitze, um ihrer Nachbarin einen Besuch abzustatten.
 

Die Schrofenschneide hinunter hielt ich mich anfänglich auf der Linie meines Anstieges, ließ aber die Kluft nunmehr zur Linken und steuerte geradenwegs auf die Gratkante weiter, dem Sattel zu. Eine tiefe Durchschartung, charakteristisch in der Zeichnung des Spitzenpaares, wie es - von West oder Ost gesehen - sich darstellt, war auf den Schuttbändern der Westseite leicht umgangen; wenige Minuten später stand ich im Sattel. Er bildet einen mit feinem Kiese, stellenweise sogar mit Sand bedeckten, mit schwachem Graswuchse bekleideten, flachgewölbten Raum von etwa 50 Schritten Länge und 12 bis 15 Schritten Breite. Beiderseits, zum Kessel von Obermädele im Westen wie auf die March im Osten, stürzen Steilwände zu bedeutender Tiefe ab. Es ähnelt dieser Sattel und das Spitzenpaar, das er verbindet, überhaupt in vielen Charakterzügen merkwürdig der Gruppe der Teufelshörner im Berchtesgadener Lande; nur fehlt der scharfe Abbruch des einen Gipfels auf den Verbindungssattel, wie das Kleine Teufelshorn ihn bietet.

Der Grat der Krottenspitze hebt sich vom Boden des Sattels in mäßiger Steigung empor, einen ziemlich breiten, mit feinem Geröll und sogar noch etwas Graswuchs bedeckten Rücken bildend; weiter aufwärts geht derselbe in gut gangbare Felsstufen über, die erst in der Nähe des Gipfels etwas steiler sich auf einander türmen. In seinen obersten Partien wendet sich der Kamm von der nördlichen plötzlich in eine westliche Streichrichtung, und zieht als scharfe Schneide, aus wild zerklüfteten, oft mitten durchspaltenen Felsblöcken zusammengesetzt, seinem westlichen Kulminationspunkte zu. Eigentlich bedeutende Schwierigkeiten traf ich jedoch auch hier nicht an, und nach Durchsteigung einer ziemlich tiefen Einschartung betrat ich den schmalen Scheitel der Krottenspitze.
Steilwände fallen nach beiden Seiten, links in den Kessel von Obermädele, rechts gegen das Trauchbachthal (Traufbachtal); vorwärts, dem Sperrbache zu, setzt der Grat noch eine Strecke weit in mäßiger Senkung sich fort, um alsdann ebenfalls mit senkrechten Mauern in den Abschluß des Sperrbachtobels niederzustürzen.
Der Übergang von der Öfnerspitze hatte nur ¾ Stunden in Anspruch genommen. Ich befand mich nun auf dem niedrigsten der drei Krottenköpfe, immerhin noch in einer Höhe von 7832 Fuß (ca. 2.544m) - nach der Grenzüberschreitungskarte, während Sendtner eine "Krottenspitze" mit 7620 Fuß angibt; der bloße Vergleich meiner Gipfelhöhe dem Augenmaße nach mit den benachbarten, ihrer Höhe nach mir bekannten Bergspitzen, dem Hochvogel, den Hornbachern, der Mädelegabel u.s.w. erwies mir die Unrichtigkeit dieser letzteren Angabe, welche man übrigens der Kollectivbezeichnung "Krottenköpfe" in der Regel beigesetzt findet. Auf welche andere Spitze in dieser Gegend sich die bezeichnete Messung allenfalls beziehen könnte, wüsste ich nicht zu deuten.

Von besonderem Interesse auf dem neugewonnenen Gipfel war mir der Anblick des Trauchbachthales (Traufbachtal), das auf allen meinen bisherigen Bergwanderungen mir verschlossen geblieben war; ein freundliches, grünes Tälchen, besät mit Alpenhütten in seinem Grunde und an den reich begrasten Flanken des Bergrückens der Kegelköpfe hinan, welcher nördlich seinen Lauf begleitet; steil, aber durchweg mit Vegetation bekleidet, hebt sich sein Abschluss zum Sattel des "Märzle", welcher auf's Hochplateau der "March" und in's Hornbach-Gebiet hinüberleitet; nur in seinem südöstlichen Winkel stellt der mächtige Bau der Krottenköpfe seine furchtbar schroffen Wände. Gegen Westen lag tief unter mir das Gewirre von Zacken und Türmchen, welche den Gebirgsgrat nach dem Fürschießer hin fortsetzen.
 

Ich verweilte nur kurze Zeit auf dem Gipfel und trat sodann den Rückweg an, in den Sattel hinab, von hier wieder ein Dritteil [8] der Öfnerspitze aufwärts, um die große Kluft zu umgehen, und, wie ich gekommen, quer durchs Geschröf nach der Scharte im Hauptgrat zurück. Es war noch eine Stunde bist Mittag, und ich hätte nun in voller Muße und Bequemlichkeit abends in Sonthofen zurück sein können. Das wäre mir jedoch als gewaltige Zeitverschwendung erschienen, und ein Plan, die noch übrigen Tagesstunden in ergiebigerer Weise auszunützen, lag auch schon bereit. Ursprünglich hatte ich daran gedacht, das Hermannskar zu kreuzen und mit dem Marchspitz anzubinden. Da jedoch ein Übergang erst südlich des Großen Krottenkopfes möglich erschien, so mußte dieses Projekt als zu mühsam und zeitraubend aufgegeben und ein Besuch dieses respektablen Nachbars der Krottenköpfe auf die Wanderungen im Hornbachtale verschoben werden. Dafür gedachte ich die ganze Südflanke des Gebirges hinter der Mädelegabel zu queren, den Bockkarkopf, der als südwestlicher Vorposten jener Gruppe ebenfalls eines Besuches mir wert erschien, zu ersteigen und meinen Abstieg ins Bacher Loch und nach Einödsbach zu suchen. Ein weiter Weg, aber viel versprechend.
 

Punkt 12 Uhr war ich am Mädelejoch zurück, wo ich zwei Grenzjägern begegnete, die den Vormittag über in der Umgebung des Mädele-Passes umhergestreift waren und mit nicht geringer Verwunderung erst auf der Öfnerspitze und kurze Zeit darauf auf der Krottenspitze eine Gestalt wahrgenommen und ihre Rufe gehört hatten.
Den gewöhnlich zur Ersteigung eingeschlagenen Weg verfolgend durchwanderte ich das wellige Hügelland im Süden des Kratzer, bog über seinen Westrand hinweg in die Steilhänge und Gräben der Schwarzen Milz ein und anstatt nun, der gewohnten Fährte folgend, zum engen Grat über en Wildgräben wieder aufzusteigen, schnallte ich die Eisen an und kreuzte die ganze Gebirgsflanke mit all ihren Lahnen, Rissen und Schluchten in gerader Linie nach dem Kratzer-Joch hinüber. Ich könnte diese Modifikation des Mädelegabel-Weges allen künftigen Ersteigern nur empfehlen; die Schwierigkeiten sind auf dieser Linie nicht grösser als auf dem schmalen Grat, nur Eisen sind erforderlich, um an den schlüpfrigen Flächen genügenden Halt zu finden. Der minder anstrengende Durchgang und die Zeitersparniss von nahe einer halben Stunde dürften das Mitnehmen solcher immerhin lohnen.
 

Zum dritten Male in diesem Sommer kam ich am Hochsee des Kratzer-Joches vorüber, der vom Schmelzwasser des Trettachfernes (Schwarzmilzferners) sich nährt. Als ich das erstemal – Mitte Juni – die Mädelegabel bestieg, bemerkte ich nichts von seiner Existenz; Schneemassen deckten mit einförmig weißer Decke die ganze Mulde. Das zweite Mal – Ende Juli – erblickte ich den See als lichtblauen, verschwommenen Ring im Schneefelde; nun, da ich in später Jahreszeit zum drittenmale jene Gegenden betrat, lag der grell himmelblaue Wasserspiegel schnee- und eisfrei in seiner Uferumwallung, von tiefbraunen Hügeln der lettigen Allgäu-Schiefer umrandet, auf welchen nur das große Alpenveilchen in Päckchen sammetvioletter (samtviolett) Blüten noch gedeiht – wo aus dem dunklen, lehmigen Boden die Diamanten der Mädelegabel, kleine, vollständig ausgebildete Bergkristalle von Stecknadelkopfs- bis zur Erbsengrösse, im Sonnenschein ihre Blitze hervorsenden.
Neuerdings hebt der Dolomitstock des Gebirges sich um eine steile Stufe gegen Westen, dort zum kahlen Felsplateau sich auszubreiten, dessen flacher Scheitel den Trettachferner (Schwarzmilzferner) trägt. Die gerade Wegrichtung nach der Mädelegabel, welche die längs des Hauptgrates ansteigende Schutteinsenkung verfolgt, wurde hier von mir verlassen; links abschwenkend bog ich in eine mäßig breite Trümmergasse ein, welche mich auf kürzestem Wege an den Trettachferner (Schwarzmilzferner) und quer über denselben zur Bockkarscharte (Anmerkung: Scharte südwestlich der Mädelegabel, durch welche man vom Bacher Loch herauf auf den Schwarzmilzferner übertritt. Ein Name für diesen wichtigen Gratübergang wurde mir nicht bekannt, ich gebe den hier in Anwendung gebrachten, welcher mir passend erscheint, aus eigener Kompetenz) bringen sollte.
 

Schwarzmilzferner vom Gipfel der Mädelegabel herab © wanderpfa.de Bald war der Steilabsturz der oberen Terrasse umgangen, über plattige Hügelwellen hin näherte ich mich dem Saume des Firnfeldes. Nicht ohne einige Spannung betrat ich die weiße, sanft gegen Nordwest sich aufwölbende Fläche. Hatte ich doch zu wiederholten Malen schon von den gefährlichen Spalten gehört, welche der Trettachferner (Schwarzmilzferner) berge, welche den Ersteiger der Mädelegabel bedrohen sollten, und in deren einer ein österreichischer Ingenieur, mit Vermessungen beschäftigt, sogar seinen Tod gefunden haben soll. Bei meinen beiden früheren Besuchen der Mädelegabel hatte ich nun dergleichen allerdings nicht gesehen; aber der erste derselben, der auch auf die rivalisierende südwestliche Spitze sich erstreckt hatte, war in die frühe Jahreszeit gefallen, der zweite ging auf die nordöstliche Spitze allein und daher nur am Saume des Ferners hin. Diesmal sollte ich, im Spätsommer bereits, den ganzen unteren Abfall des Firnfeldes queren und durfte daher wohl eher auf dergleichen unliebsame Begegnungen gefaßt sein. Ich traf die Firnmasse nun in der Tat in voller Auflösung; von allen Seiten rauschte, zischte, sprudelte es; Bäche von Schmelzwasser schossen in drei bis vier Fuß (ca. 0,9 bis 1,2 m) tiefen Eisspalten dahin, um nach kurzem Laufe in dunkle Löcher sich wieder zu verlieren, an anderen Stellen eben so plötzlich - oft fontainenartig hervorbrechend - wieder ans Tageslicht zu treten. Aber von einem eigentlich Schrund sah ich nichts; sei es, daß solche nur vereinzelt in den höchsten Partien der Gletschermasse sich vorfinden, sei es, daß ihr Bestehen überhaupt Fabel sei - wie das Vorrücken des Trettachfernes (Schwarzmilzferners) auf die Weidegründe der Roßgumpen-Alpe, "welche durch ihn schon manches Joch kulturfähigen Bodens verloren habe" (Anmerkung: Der Schwarzmilzferner darf auf seinem Steinhügel-Plateau mindestens dreimal so gross werden, als er ist, ohne für einen Pfennig Schaden anzurichten.) – ich kann in diesem Falle eben nur wieder konstatieren, daß ich eine vielberufene Gefahr einer Bergbesteigung nicht gesehen habe, während ich sonst doch allerlei zu sehen pflege, das andern Bergwanderern verschlossen blieb.
 

Bockkarscharte mit Waltenberger Haus vom Heilbronner Weg herab © wanderpfa.de Da ich nahezu genau in der Quere des Trettachferners (Schwarzmilzferners) mich bewegte, in welcher Richtung derselbe die weitaus größte Ausdehnung besitzt, so verbrachte ich beinahe eine Stunde mit dessen Überwanderung; die beiden Pyramiden der Mädelegabel und Hochfrottspitze - dunkle Massengestalten aus dem schimmernden Schneemantel emportauchend - zogen langsam an meiner rechten Seite vorüber; ich hätte in kurzer Zeit ihre wohlbekannten Felsenscheitel ersteigen können, aber mein Ziel lag weiter, gegen Westen. Eine niedrige Reihe zackiger Felsschrofen, vom Südwestfusse der Hochfrottspitze (Anmerkung: Diese Benennung gebraucht die Grenzbeschreibungskarte für die südwestliche Mädelegabelspitze, welche ihr zufolge auch die höhere ist.) ausstrahlend, bezeichnet das jenseitige Ufer des Firnfeldes. Diese Grenze überschreitend sah ich vor mir ein neues, kleines Kar, sein naher Höhenrand auf dem Grate wies einen Steinmann, das Wahrzeichen der Übergangsstelle ins Bacher Loch.
 

Weiter noch ging's nach Westen. Auf schuttbedeckten Plattenlagen umging ich einen Vorbau des Bockkarkopfs; eine starke Steilstufe tiefer als mein Weg lief, gewahrte ich wieder einen trümmerbedeckten Kessel, und noch eine Terrasse tiefer ein grünes Plätzchen – wahrscheinlich eine vereinzelte Einlagerung der vegetationsgünstigen Liasschiefer im Dolomitfelsen. Im tiefen Geröll einer zur Klemme sich einschnürenden Mauergasse arbeitete ich mich wieder zur Kammhöhe des Gebirges empor und erstieg von da in 20 Minuten die schneidige, jedoch günstig gestufte Ostkante des Bockkarkopfs (4 Uhr nachmittags).
 

Das innerste Schachenthal (Schochental), welches die Nebel auf dem Hohen Licht hartnäckig mir verborgen hatten, lag nun offen meinen Augen; spärliche Vegetation zeigte noch seine Sohle, die Terrassen aber, die zu seinem Abschlusskessel in mehrfachen Stockwerken sich hinaufbauen, weisen den kahlen, düster grauen Dolomitfels, da und dort bergen seine Mulden einen alten Schneerest und nicht selten verrät durchblickendes Eis deren perennierenden [9] Charakter. Es erscheint mir bemerkenswert, dass der Allgäuer Dolomit der Firnbildung offenbar viel günstigere Bedingungen bietet, als dies anderwärts in unseren Kalkalpen der Fall ist. Zieht man mit den Terrassen-Plateaus im Schachenthal (Schochental) die weit ausgedehnten und um vieles höher gelegenen Hügelflächen der Berchtesgadener Gebirge in Vergleich, so sollte man von ihnen eine weit kontinuierlichere Firnbedeckung erwarten, als sie in der Tat aufweisen.
Den abschliessenden Grat des Schachenthals (Schochentals) bildet der uns bereits bekannte Verbindungskamm zwischen der Ellbogner Spitze und dem Hohen Licht; letzteres steht dem Bockkarkopf im Südwesten als gigantische Pyramide gegenüber und verkettet sich durch die Zackenreihe, welche den Hochalp-Ferner umspannt, mit dem Wilden Mann im Hauptgrate; gegen diesen senkt der Bockkarkopf sich mit mäßig geneigter, aber arg zerrissener, kaum gangbarer Schneide.
Der Gipfel, dessen Höhe ich im Vergleiche mit benachbarten Kulminationspunkten auf 7950 Fuß = 2580 m taxiere, trägt kein Vermessungssignal, wohl aber einen Steinhaufen und auf einem Blocke desselben eine verwitterte, nicht mehr lesbare Namensaufschrift. Das Massiv des Bergkörpers stürzt gegen Süden steil auf die Kare des Schachenthals (Schochentals) nieder, senkt sich dagegen nordwärts in mässigerem Grade, wiewohl mehrfach durch Wandabsätze unterbrochen, auf weite Geröllfelder, die in zwei getrennte Kare sich teilen: das eine derselben öffnet sich westwärts gegen das Wilde Männle, das andere in nordwestlicher Richtung gegen das Bacher Loch. Welchem von beiden der Name "Bockkar" eigentlich, oder ob er beiden gleichmässig zukomme, gelang mir nicht, zu ermitteln (Anmerkung: Die neueren Karten unterscheiden "Vorderes Bockkar" und "Hinteres Bockkar".).
 

Wildes Männle über der Bockkarscharte mit Waltenberger Haus © wanderpfa.de Nach halbstündigem Aufenthalte wandte ich mich zum Abstiege, die enge Schneide gen Osten zurück, im Angesichte die gewaltige Pyramide des südwestlichen Mädelegabel-Gipfels, zu seiner Linken der schlanke Turm der Trettachspitze. Fünf Uhr nachmittags stand ich auf der Scharte und trat auf die Nordwestseite des Gebirges über. 200 bis 300 Fuß (ca. 60 - 100m) tief ging's über stufiges Geschröf steil hinab, dann folgten die Schuttfelder, in unabsehbarer Länge zur Tiefe sich hinunterdehnend. Wohl dem, der im lustigen Sprunge diese flüssige Bahn abwärts verfolgt, von dem unablässigen Gleiten und Fahren in seinem Vordringen nur gefördert, seinem Ziele um so rascher näher gebracht; wehe ihm, wenn er emporsteigend den haltlosen Schutt unter die ermattenden Tritte stampfen muss!
Zur Linken trat der Körper des Bockkarkopfes zurück und eröffnete den Einblick in die innerste Trümmermulde des Bockkars, auf das schwarze Gemäuer des Wilden Mann, endlich auch auf's Wildmännle und den breiten Lawinenstrom der "Schneeflucht"; zur Rechten entwickelten sich die Gipfel des begrenzten Ausläufers der Mädelegabel, seltsame Zacken und Kegelgestalten, die vordem ich nie geschaut (Anmerkung: Die Berge der Guten Hoffnung). Breit vor mir, die Öffnung des Kars verschließend, stand der Linkerskopf mit seinen steilen, grünen Flanken; in der Tiefe lag ungewisses, dämmerndes Dunkel, die Talsohle blieb dem Blicke verschlossen.
Es endete das lose Geröll, spärlicher Graswuchs begann den Boden zu überziehen, eine murmelnde Quelle begleitete mit moosigem Felsrinnsale auf kurze Strecke meinen Weg - eine willkommene Entdeckung, für den Fall, dass ich ins Bacher Loch mich nicht hinabfände, im Kar übernachten müsste, um andern Tages über den Trettachferner (Schwarzmilzferner), die Obermädele-Alp und den Sperrbachtobel heimzukehren.
 

Terrasse um Terrasse der Wiesengehänge blieb hinter mir; steiler dachte das Gehänge sich ab, auch der Zweiggrat der Mädelegabel erreichte sein Ende und zeigte die wanddurchsetzten, zerschluchteten Talflanken des Einödsbachs. Immer massiger, dunkler, näher drängte der Linkerskopf heran, es schien, als sollte ich in Bälde unmittelbar von meinem Berggehänge weg auf diese Graslehnen hinüberspringen können; und doch wusste ich zwischen beiden die Tiefe des Bacher Lochs. Diese Erscheinungen mahnten zur Vorsicht.
Behutsamer stieg ich die letzten Grasböschungen hinab, schon zeigten sich einzelne Felsstufen in der grünen Decke, ein letztes Wiesenplätzchen auf vorspringender Kanzel – und allseits vor mir stürzen die Wände zur Tiefe, in welcher schmal das Weideland der Bacher-Alpe sieht hinzieht, vom Silberfaden des Einödsbaches durchschlungen. Daß hier an ein Hinabkommen nicht zu denken, konnte mir überzeugend einleuchten, die einzige Möglichkeit blieb übrig, einen Durchgang nach dem Inneren des Tales zu suchen, in welcher Richtung ich, der starken Hebung der Talsohle wegen, bald auf dieselbe treffen musste. Ich stieg eine Strecke weit zur Höhe zurück und begann sodann die Bergflanke gegen links zu queren. Nachdem einige kleinere Einrisse übersetzt waren, fand ich mich vor einem steilen, enggeschlossenen Graben, jenseits von einem Zackenriff überragt, dessen nahes Ende auf die schmutzige Schneedecke der "Schneeflucht" hinabzusehen gestattete. Das grüne Terrain längs des Grabens abwärts verfolgend gelangte ich wieder auf einen von Steilabbrüchen umgebenen Vorsprung, doch schien es mir möglich, an den Rasenpolstern der Felsen bis in den Graben hinunter und durch dessen Vermittelung auf die "Schneeflucht" zu gelangen.
 

Ich schnallte die Eisen an, und wollte eben ins Gehänge mich einlassen, als gellender Ruf von jenseits des Tales erscholl. Ich horchte auf – es folgten einige ebenso gellend gesprochene, aber unverständliche Worte. Das war Abmahnung. Aber was mag mir's helfen? Ich muss meinen Weg wohl suchen, und werde zeitig genug sehen, ob er wirklich unmöglich. Ich lasse mich also auf die nächste Stufe hinab – wieder der gellende Mahnruf!
Ich ging auf die Wiesenterrasse zurück und prüfte vom Rande des Grabens nochmals die Sachlage; gelangte wiederholt zur Überzeugung, daß von unmittelbarer Gefahr nicht die Rede sei und ein anderer Ausweg, als der hier wahrscheinliche, sich überhaupt nicht eröffne.
Packe nun, fest entschlossen, wieder an, hinunter gegen den Graben – aber heftiger und eindringlicher als vorher schallen die Rufe von drüben und ein längerer Sermon [10] wird von der unsichtbaren Stimme mir gehalten, von welchem ich kein Wort zu verstehen vermag. Es ist unbeschreiblich, welch ein Hindernis dem Bergsteiger in bedenklicher Situation solcher Zuruf ist; hat er doch oft all seine Energie aufzubieten, die eigene innere Stimme zum Schweigen zu bringen, die ihm sagen will, er befinde sich in Gefahr – nun erst der Zuspruch eines andern, der eben das ihm ins Gedächtnis ruft, an was er nun und nimmer denken darf. Ich wüsste mir mehr als ein Dutzend Fälle, in welchen solch ein unberufener Mahner den Ausschlag zur Umkehr gegeben oder, wenn diese bereits unmöglich geworden, die notwendige kalte Entschlossenheit mir benommen hätte, zu tun, was allein noch retten konnte.
 

Ich gehe also wieder ein paar Schritte vorwärts, die Eisen haften gut an den Grasschöpfen, ich sehe absolut keine Gefahr bei der Sache, nur Vorsicht ist vonnöten; da fällt mein ärgerlicher Blick hinüber auf den Linkerskopf, woher es unablässig schreit und abmahnt, und jetzt vermeine ich, ich sähe an den grünen Hängen sich's regen. Das Fernglas heraus: – wirklich, ein Bursche springt, so schnell seine Füsse ihn tragen, die Lahnen herunter, der "Schneeflucht" zu. Nun dachte ich freilich "Gut ist gut, besser ist besser!" – setzte mich aufs Grasgesimse und wartete seine Ankunft ab.
Mit dem Rufer von drüben war ich nun ausgesöhnt, es wäre mir nicht eingefallen, dass ein Hirt oder Heuer Hals über Kopf von seinem Berge herunterlaufen würde, um einem Fremden beizuspringen, den er in die Irre gehen sieht. Ich zog unwillkürlich auch die Parallele mit dem Tiroler oder Altbayer, der wahrscheinlich in gleichem Falle ruhig zugesehen, und, wenn der andere abgestürzt, ein Vaterunser für seine arme Seele gebetet hätte.
Bald sah ich die Gestalt die "Schneeflucht" überschreiten, ging nun aufs Wiesenplateau und an den Rand des Grabens zurück, um zu sehen, welche Anstiegslinie zu mir herauf sie wählen würde: – richtig, es war die gleiche, die ich zu meinem Abstiege bestimmt hatte. Wusste ich's ja doch!
Jetzt hob der Ankömmling den Kopf über den Rand der Terrasse empor und wir standen uns Angesicht in Angesicht gegenüber. Große gegenseitige Überraschung! Ich erkannte den jüngsten der Brüder Jochum und er den "Herrn, der auf dem 'Gaiskopf' gewesen."
"Ja, das wenn ich gewußt hätte – Sie wären freilich allein heruntergekommen!"
Nun, er war nun einmal da, und so stiegen wir gemeinsam zur "Schneeflucht" hinab; es ging steil, ähnlich wie an der Höfats; doch bot sich keine allzu große Schwierigkeit. In einer halben Viertelstunde waren wir unten.
 

Die "Schneeflucht" ist in gleicher Weise wie der Sperrbachtobel die Lawinenausfüllung einer engen Felsschlucht, unterhalb welcher die Gewässer sich sammeln und durch ein Tor an ihrem Ende als der Einödsbach zu Tage treten. Sie besitzt augenscheinlich weit größere Konsistenz als die Lawinenbrücke des Sperrbachtobels, da wir über ihre Decke fest und sicher wegschritten, während im Sperrbachtobel nur Trümmer seiner Überwölbung mehr standen. Eine Unmasse Schutt und Schmutz ist auf ihr abgelagert, und oft bemerkt man vor der kotigen Überdeckung gar nicht, daß man auf Schnee geht. Von den Seiten rieseln die Gewässer in kleinen Kaskaden herab und verschwinden unter der Decke, in ihren dunklen Gewölben sich zu sammeln. Nach 20 Minuten waren wir am Ende der "Schneeflucht" und traten auf das rechtsseitige Steilufer des Einödsbaches über; ein Rückblick zeigte uns den schwarzen Torbogen, auf welchem das bereits ziemlich ansehnliche Gewässer hervorrauscht.
 

Baptist Schraudolph © wanderpfa.de Eine Viertelstunde weiter langten wir bei der einsamen Hütte der Bacher-Alpe an, bei welcher erst der gebahnte Weg beginnt. Hier verließ mich mein improvisierter Führer, seinem Geschäfte, das er meinetweg verlassen, wieder nachzugehen, nämlich ein paar auf dem Linkerskopf verstiegene Geißen aufzusuchen; ich verabschiedete mich von ihm mit herzlichem Danke für seine gute Absicht und nicht ohne eine Entlohnung seiner Leistung, wenn ich ihrer auch eigentlich nicht bedurft hätte.
Der goldene Abendhimmel sah ins Tal des Einödsbaches herein und die Sonne war bereits unter den Horizont gesunken, als ich in Einödsbach ankam und, wie gewohnt, bei Baptist Schraudolph vorsprach. Ich bedurfte der Stärkung und Ruhe, aß dort zu Nacht und streckte mich auf das Laubbett. Um zwei Uhr nachts aber brach ich wieder auf, um den morgens vier Uhr von Oberstdorf abgehenden Stellwagen zu erreichen und zeitig in Sonthofen einzutreffen.
 

Heller Mondschein goß sein Licht über die Berge, in die Talebene der Birgsau; ich trat wieder hinaus auf die einzelnen Balken der Bühne über der "Bacherzwing" und blickte hinab in den tobenden Schlund, wo Licht und Schatten einander jagten und der aufsprühende Gischt in funkelnder Helle gegen die schwarzen Wände schlug. Von ihrer Höhe herunter grüßen die Zinken der Mädelegabel, der Bockkarkopf inmitten seiner weißen Schuttfelder, das Wildmännle über der Lawinenschlucht mir nach; der Morgenstern zieht über den Himmelschrofen herauf und die Wellenlinie des Grünten zeichnet im Grau des nordöstlichen Horizonte sich ab.

Hinaus, in's Land!
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung „Die Krottenköpfe (Gr. Krottenkopf, Öfnerspitze, Krottenspitze)“ aus dem Werk "Aus den Nördlichen Kalkalpen" von Hermann von Barth (1874) im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind aus der Veröffentlichung in dem Werk "Gesammelte Schriften" von Bünsch / Rohrer (1926) übernommen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Mit Ausnahme der Vertikal- / Horizontal-Profile handelt es sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden aktuelle "Bergnamen" - sofern nicht bereits durch Bünsch / Rohrer geändert - ergänzt und gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefaßt.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
Glossar:
[1] kulminieren: kulminieren (franz. culminer): den Höhepunkt erreichen, den Gipfelpunkt erreichen (duden.de) -->zurück
[2] Orographie: Beschreibung der Reliefformen des Landes; orographisch = die Ebenheiten und Unebenheiten des Landes betreffend (Quelle: duden.de) -->zurück
[3] Anmerk. Barth: Anmerkung Barth: Vom Kataster unter dem Namen Hermannskarspitz (2653 m) aufgeführt. Die Benennung des höchsten der Krottenköpfe ist eine äußerst schwankend und ich bleibe bei dem Name Großer Krottenkopf, welcher auch von Waltenberger adoptiert wurde; von den Jägern wird er wohl auch Petersspitze genannt, da er die Petersalpe, (das hinterste Hornbachtal) beherrscht; im Hornbachtale werden die Krottenköpfe insgesamt als Marchspitzen bezeichnet. Den vom Kataster gebrauchten Namen Hermannskarspitz bekam ich, solange ich Bergtouren im Allgäuer Gebirge machte, niemals zu hören, was mich veranlaßte, ihn aufzugeben; ich erfuhr jedoch in der Folge, daß in Elbigenalp und einigen anderen Ortschaften des Oberlechtales diese Benennung allerdings gebräuchlich sei. -->zurück
[4] Lahn: Lahn (österr. bayr. mundartl.) die; ­, -en [mhd. lene = Lawine; Gießbach] (bayr., österr. mundartl.) Lawine (oewb.retti.info) -->zurück
[5] Parapluie: frz. Bezeichnung für Regenschirm -->zurück
[6] Depression: Vertiefung, Geländemulde -->zurück
[7] Alizarin: Alizarin ist ein natürliches in verschiedenen Pflanzen vorkommendes rot färbendes Mittel, das bereits vor Tausenden von Jahren zum Färben eingesetzt wurde -->zurück
[8] Dritteil: Dritt|teil, Dritt-Teil, das; -s, -e (veraltet): Drittel (Quelle: Duden.de) -->zurück
[9] perennierend: Im allgemeinen Sprachgebrauch als Synonym für wiederkommen, ausdauern, anhalten. In der Geographie: das ganze Jahr über Wasser führen (bei Quellen und Flüssen) – sogesehen bestimmt auch auf Schneefelder übertragbar (wiktionary.org) -->zurück
[10] Sermon: Sermon [lateinisch] der, allgemein: langatmiges, langweiliges Gerede (eigentlich Rede, Predigt)(Quelle: lexikon.meyers.de) -->zurück