Das Thannheimer Gebirge
von und mit Hermann von Barth (04.-06.06.1869 "Aus den Nördlichen Kalkalpen"

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 

Blick auf die Gruppe der Tannheimer Berge um ca. 1960 - im Vordergrund Schloß Neuschwanstein Das grüne Thal von Wald umfangen, der hoch in die Schluchten des Gebirges sich hinaufzieht; — lachende Weidematten hingebreitet über die gewölbten Bergrücken, durch die Thalsinken hinauf bis zur Grenze der Vegetation, die weiten, flachen Kare der Gebirgshöhen auskleidend. Drüber der starre, zackige Fels, als Rahmen des Bildes, in welches nur selten ein störender Eingriff ihm gestattet wird; seine Gipfelhäupter spiegeln sich im azurblauen See, welcher den Grund des Alpenbeckens erfüllt. Stattlich grüßt die Sennhütte den ankommenden Wanderer; statt des Loches um’s Herdfeuer herum empfängt ihn eine saubere Alpstube mit Tisch und Bank. In langen Zügen kommen die schweren, Gesundheit und Fülle strotzenden Kühe zur Abendmelke und vollauf haben der Senn und seine Untergebenen zu thun, den centnerschweren Käse des Morgens unter die Presse zurecht zu richten, bevor neuer Vorrath anlangt zu dem geschätzten Nährstoffe, der im folgenden Jahre durch die Hand des kundigen Agenten nach Norddeutschland, Holland, Russland, Frankreich, vielleicht nach England und Amerika zu wandern bestimmt ist.

Ein ausgedehntes Weidegebiet, meist ein ganzes Bergthal für sich allein, dient einer einzigen Alpe und ihrer Bevölkerung von wenigen Menschen und zahlreichem Nutzvieh. Je nach der Jahreszeit ist die Residenz tief unten in der Sohle des Hauptthales am Ufer des Bergbaches, oder in höherer Waldzone an den Weiden des Gehänges, am Bande des tiefen Tobels, welcher die Wassergüsse des schmelzenden Hochschnees brausend zu Thal führt; — oder die höchstgelegene Hütte im grünen, felsumrandeten Kar, am Gestade [1] des stillen Alpensees ist für wenige Wochen des Jahres zur Wohnung erkoren. Dort haust ein fröhliches, thätiges, gewecktes Bergvolk, mit seinen Bergen verbunden seit uralten Zeiten; seit Jahrhunderten darauf eingelernt, der Alpennatur den größtmöglichen Nutzen für das eigene leibliche Wohl abzuringen, den Kampf um’s Dasein keck aufzunehmen mit der feindlichen Gewalt der Elemente ebensowohl, als mit seinen Mitconcurrenten am sparsam gedeckten Tische, im schlauen, gewinnbringenden Verkehre mit seinen Nachbarn. Ein neues Bild dem eintretenden Alpenwanderer, wenn er von Osten her, von Berchtesgaden, Altbayern, oder von Tirol herüber kommt; neu die Berge und neu die Leute; — diess Bild heißt "Algäu" ("Allgäu").

Auch dem professionirten Bergsteiger sind die Berge und ihre Eigenschaften ungewohnt. Grün bis hoch hinauf und mit zackigen, oft isolirten Mauerruinen gekrönt, machen sie demjenigen, welcher längere Zeit in den erdrückenden Felsenmassen der Salzburger oder Tiroler Berge umhergewandert ist, einen gewissermassen unbedeutenden Eindruck. Doch immer hinauf, auf diese unansehnlichen Hügelchen! Stundenlang schon ist das Thal verlassen, und noch immer endlos dehnen sich die grünen Flächen bergan; die Zone, welche in anderen Berggruppen längst schon unter wüstem Getrümmer liegt, bildet hier noch nahrhafte, üppige Weide. Die mürben Schiefer des Flysch [2] sind es, welche ganze Bergzüge zusammensetzen, — die leicht verwitternden Schichten des Alpen-Lias (Algäuschiefer) kleiden die Thäler und Kare der Hochalpen aus und erzeugen eine reiche Vegetation am Fuße der starren, das Leben ertödtenden Dolomitzacken. Und wer die Ersteigung über Grün gering zu schätzen gewohnt ist — verirre er sich nur einmal in solch’ eine grüne Fläche! Versteige er sich in ein grün durchsprenkeltes Felsengehänge, in die durchrissenen Schranken eines Alpentobels! Da wird er eine Steile kennen lernen, die vorher ihm fremd gewesen, da wird er auf der stufenlos abschießenden Planke bald unbeweglich stehen, fühlend, wie die genagelte Schuhsohle [3], die er sonst so sicher in’s Geschröf zu setzen gewohnt war, langsam an Boden verliert, mit den Händen vergeblich im kurzen Grase nach einem Anhaltspunkte greifend. Wohl ihm, wenn es dann noch gelingt, aufwärts klimmend auf’s flache Terrain sich wieder zu salviren [4] und die Füsse mit den Eisen zu bewaffnen, die allein Halt zu geben im Stande sind, an der trügerischen "Lahne" [5]. Wer auf eigene Faust das Algäuer Gebirge durchstreift, der lasse die Steigeisen ja niemals zu Hause, und nicht soll es ihn verdrießen, sie manchen Tag am Bergsacke spazieren getragen zu haben. Ein einziger Graben, — eine Abstufung von geringer Höhe, ein Grasstreif von einigen Schritten Breite, könnte die treuen Gehilfen ihn schwer vermissen lassen.

So hatte auch ich in dieser mir neuen Alpen-Gegend, in welche der Sommer 1869 mich führte, erst meine mannigfachen Erfahrungen zu machen und manchen Strauß zu bestehen [6], bis daß ich mich wieder vollkommen sicher und im Stande fühlte, wie das Jahr vorher in Berchtesgaden, so auch im Algäu, den Berggipfel, den ich gesehen, auch nach eigenem Gutdünken und Plane zu ersteigen. Gleich bei meinem ersten Ausfluge auf den harmlosen Stuiben hatte ich mich im Anstiege von der Südseite herauf, nach der im Algäu nicht geltenden Theorie „ein Fels der grün durchsprenkelt ist, ist gut ersteigbar" in bedenklichster Weise in die Lahnen verwickelt. Die folgenden Touren auf Nebelhorn, Daumen, Gaishorn, hatten mir wieder das gewohnte, rauhe Geschröf vorgeführt, in welchem ich mich ungehindert und vertrauensvoll umher bewegte; doch fehlte es niemals ganz an Unterbrechungen durch die leidigen Grasflächen, die Abrisse mürben, schieferigen und doch kompakt zusammenhaltenden Geschiebes [7], namentlich in der Nähe der Thalsohlen und in den Gräben, welche ich pfadsuchend meistens ohne Pfad zu überschreiten hatte.
 

Skizze von Hermann von Barth im Skizzenbuch Nr.II von 1873 Schon auf den ersten Gipfeln, die ich erstieg, war mir im fernen Nordosten eine seltsame, zangenartige Berggestalt aufgefallen, ein paar auseinander geneigte, abgeschnittene Kegelthürme, ihre Gestalt verändernd, so wie der Standpunkt sich änderte, von welchem aus ich sie erblickte. Ich hatte sie anfänglich auf den Säuling bei Hohenschwangau bezogen, überzeugte mich aber bald, daß sie diesseits des Lech sich befänden und meinem Excursionsgebiete sohin zufallen mußten. Vom Gaishorn zum Vilsalpsee heruntersteigend und thalaus nach Thannheim wandernd, hatte ich dort zuerst nähere Kunde von diesen Bergen bekommen; es war die "Rothe Flüh" ("Gimpel"), die ich gesehen und die mir jetzt auf ein paar Stunden Entfernung in unveränderter Gestalt gegenüber stand. Ihre gegen Westen völlig senkrechten Felsthürme, die "Rothe Flüh" ("Gimpel") nördlich, der niedrigere "Haldenspitz" ("Rote Flüh") südwärts geneigt, bilden nur das westliche Ende eines längeren, sehr schroffen Gebirgszuges, welcher den Norden des Thannheimer Thales vom Haldensee bis zum Pass Gacht [8] begleitet, und dessen südlich sich auskrümmende Fortsetzung (Hahnenkamm und Gachtspitze) die Felsenschlucht einengt, durch welche die Straße nach Weißenbach und Reutte sich hinunterschlingt.

Ist der Anblick des Westendes des Gebirges, welches im Allgemeinen auch wohl mit dem weniger bekannten Namen des „Gimpel“ bezeichnet wird, schon überraschend genug für Denjenigen, welcher nach Ersteigung des Ober-Jochs bei Hindelang und nach Ueberwanderung der öden Hochmoorfläche am Fuße des Iseler, aus dessen Schluchten die Wertach ihren Ursprung herleitet, an den Rand des Plateaus oberhalb Schattwald tritt und dieses seltsame Felsgebäude isolirt aus grünen Bergzügen emporsteigen sieht, so ist der Eindruck, welchen das Erscheinen des Kammes auf den in umgekehrter Richtung Reisenden hervorbringt, wenn er aus der düstern Schlucht des Weißbaches auftauchend in’s wiesenreiche Thannheimer Thal eintritt, noch ungleich grossartiger. Massig breit und doch bis in’s kleinste Detail zerrissen und verzackt spreitet sich da der mittlere und höchste Gipfel des Gebirges, der "Kellerschrofen" ("Kellespitze") auf dem Grat, ihm zur Rechten schwingt die nahezu gleich hohe "Gernspitze" ("Gehrenspitze") sich hinaus, zur Linken weitet sich ein kahles Trümmerkar, in welchem der Doppelgipfel "Rothe Flüh" ("Gimpel")- "Haldenspitz" ("Rote Flüh") fußt. Dünne, zahnige Klippenreihen laufen an den Bergflanken herunter, deren Becken das frische Grün der Alpenweiden erfüllt. Schmale Geröllriesen, aus den Schluchten der Wände hervorbrechend, durchstreifen die Wiesengründe; Waldung bekleidet den Fuß des Gebirges, in welchen ein paar tiefe Tobel, Wasserfälle bildend, sich einschneiden. Gewaltiger noch entfaltet sich die isolirte, hohe Stellung des Gebirges und seine symmetrische Dreitheilung, betrachtet man daßelbe von mässiger Berghöhe aus, die südlich ihm gegenüber steht. Man fühlt sich dann versucht, seinen Bau mit einem in Ruinen zerfallenden Riesenschlosse zu vergleichen, dessen Eckthürme, von einem Mittelthurme überragt, diesem gleichwohl als ebenbürtige Genossen an die Seite treten.

Im Norden des Hauptkammes des Thannheimer Gebirges lagert noch ein niedrigerer, geradliniger Bergrücken gegen das flache Land sich vor, gemeiniglich mit dem Namen „die Flüh" ("Schlicke") bezeichnet. Zwischen beiden eingeschlossen liegt das dichtbewaldete Reinthal, welches unterhalb des Knie-Passes in den Lech ausmündet. Vom Knotenpunkt beider löst in nordwestlicher Richtung der Kamm der Vilser Berge mit dem Rossberg und Aggenstein sich ab und verbindet die Kette der Thannheimer Gipfel mit der niedrigen Gruppe der Pfrontener Berge. Mit seiner ganzen, durch die bereits erwähnte südliche Ausbiegung des Hauptkammes beträchtlich verlängerten Ostseite grenzt das Thannheimer Gebirge an das linke Lechufer und begleitet dessen Lauf von Weißenbach nach Reutte mit grünen, zackengezierten Bergwellen, über welche die Weiße Kalksäule der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") in’s reich bevölkerte Thal herunterschaut.
 

Ich hatte im Beginne meiner Algäuer Excursionen es auf die mehr isolirten Gebirgstöcke im Nordosten dieser Gruppe abgesehen, bevor ich in’s Herz des ganzen Gebirges, in die Quellenthäler der Iller, einzudringen gedachte. Sobald ich daher vom Gaishorne aus die seltsamen Felsgestalten im Thannheimer Thal als innerhalb meiner Grenzen gelegen erkannt; die ersten Erkundigungen über sie im Thale eingezogen hatte, waren sie auch zum Ziele der nächsten Bergfahrt bestimmt; und gewohntermassen währte es nicht lange, bis der gefaße Plan zur Ausführung gelangte. Am 4. Juni Nachmittags verließ ich, wieder in Bergausrüstung, die Straßen von Sonthofen. Ich hatte einen weiten Weg vor mir, denn Nesselwängle, nahe dem Eingange zum Pass Gacht, war mir zum Nachtquartier bestimmt, auf daß mit dem Frühesten die Ersteigung angetreten werden könne. 5 Uhr Abends erfolgte der Abmarsch von Hindelang, und über das Joch ging’s die Landstraße entlang nach Schattwald, woselbst am Grenzhause noch einiger Aufenthalt entstand, indem der biedere Zollwächter den Inhalt meines ziemlich geschwollenen Bergsackes zu sehen wünschte. Fand sich denn etwas Wäsche, eine Wolljacke, Fernrohr, Gucker [9], Messer, Notizbuch, Kaffeemaschine, ein Tabaksbeutel mit gemahlenem Kaffee gefüllt, Spiritusfläschchen, Zündholzschachtel und eine grosse Champagnerflasche, aber leer; Wasser hatte ich im Thale noch genug. Schliesslich noch ein paar Reserve-Stöpsel. Lauter zollfreie Gegenstände! — Passirt! —

Gegen 8 Uhr war ich in Thannheim, nahm dort einen Abendimbiss zu mir und marschirte bei einbrechender Nacht wieder ab. Bald deckte tiefes Dunkel meinen Weg, hier und dort schimmerte Licht aus dem Fenster eines Häuschens. Links hinüber bog sich die Straße an den Fuß des Berggehänges und bald begleitete das eintönige Plätschern der Wellen des Haldensees meine Schritte. Tiefschwarz lag sein zitternder Spiegel hart am Saume des Weges, und schwärzer noch stiegen vom jenseitigen Ufer die Berge empor zum sternübersäeten Himmel. 10 Uhr 30 Min. Nachts kam ich in Nesselwängle an; alles war still und finster. Die unbestimmt in’s Dunkel verschwimmenden Umrisse eines Aushängeschildes verriethen mir das Gesuchte, — ein Wirthshaus. Auf mein Pochen und mein Verlangen um Einlass erfolgte von Innen die Frage, woher ich komme, und die weitere, warum ich nicht in Thannheim geblieben sei. — Sehr naiv! — Weil ich eben nach Nesselwängle gegangen bin. — Endlich wurde doch, wiewohl zögernd, aufgethan, und verwunderte Blicke der Wirthin musterten den Ankommenden und seinen eigenthümlichen Aufzug, ein mixtum compositum, — man möchte sagen, eine urweltliche Stammform von Tourist, Jäger und Handwerksbursch; von ersterem kaum mehr, als die Brille. — Wir hatten uns indess bald verständigt, es wurden mir sogar noch Eier gekocht, und ich erhielt Zimmer und Bett, von welchem ich freilich nur wenige Stunden mehr Gebrauch machen konnte.
 

litografisches Vertikalprofil des Tannheimer Gebirges nach Original-Skizzen von Hermann von Barth

Kaum graute der Morgen, so befand ich mich schon im Anmarsche gegen das Gebirge, welches unmittelbar hinter Nesselwängle sich aufbaut; die Ersteigung seines Gipfels sollte meine heurige Geburtstagsfeier [10] bilden, ich ahnte zu früher Stunde noch nichts von all den Umständlichkeiten, die just an diesem Tage meiner warteten. — Längs eines eingemauerten Canales führte der Weg aus Nesselwängle hinaus dem Gebirge zu; tief aufgerissen weist es das Innerste seiner Flanken, dunkel braunrothe Felsmassen, durch deren Kluft ein Bergwasser weißschäumend sich herunterstürzt. Kaum eine Viertelstunde hinter dem Dorfe beginnt der Anstieg, auf anfangs sehr schwach ausgeprägtem, steil durch Fichtenköpfchen sich hinaufwindendem Wege, welcher nach etwa 20 Minuten auf ein freies Wiesenplätzchen und von diesem weg in den Hochwald eintritt. Hier gestaltet sich derselbe alsbald zum breiten Alpenpfade, welcher in zahlreichen Krümmungen die Höhe des steilen Berggehänges zu gewinnen strebt. Gelegentliche Lichtungen des Gehölzes eröffnen den bei jedem Schritte sich weitenden Ausblick auf’s Thannheimer Thal mit seinen grünen Weiden und seinen häuserreichen Ortschaften; hat man das Niveau der nächstwestlich sich erhebenden Bergrippe gewonnen, so erscheint auch der lichtblaue Spiegel des Haldensee’s wieder, welcher dem ganzen, reichen Bilde der Tiefe neuen Glanz und neues Leben verleiht. Im Rücken des Wanderers steigt über dem Scheitel des "Grünspitz" ("Krinnenspitze") und "Signisschrofen" ("Litnisschrofen") die zackige Gestalt des Lailach empor. Von der Höhe herunter schauen graue, aus der Waldung sich aufthürmende Felsbastionen, der Kamm des Gebirges und seine Gipfel aber bleiben dem Auge verborgen. Zuweilen drängt der Weg sich ziemlich nahe an die Schlucht heran, welche bereits im Thale so augenfällig hervortritt, und welche dem Pfade zur Rechten bleibt; mit allmähliger Erhebung sieht man diesen Einriß am jäh abgebrochenen Rande einer flachen Wiesenmulde seinen Ursprung nehmen. Bald darauf verläßt der Weg die obere Grenze des Waldes und, auf theilweise krummholzbewachsenes [11], übrigens ziemlich freies Terrain austretend erreicht er die Bergterrasse der Nesselwängler Alpen, 1 Stunde nach Beginn des Anstieges von Nesselwängle.

Dicht zusammengedrängt stehen auf welligem Wiesengrunde einige niedrige, kleine Hütten. Zur Rechten dehnt eine mässig tiefe, grüne Bergmulde sich aus, an deren jenseitigem Gehänge abermals eine kleine Alpengruppe sichtbar ist. Noch war kein Leben auf diesen Höhen; kärglich erst sprosste das Gras aus dem kalten Boden hervor, welchen noch zahlreiche Schneeflecke überdeckten. Durch die Krummholzhügel führte der Steig mich noch eine Strecke weit aufwärts, um dann nach der rechten Seite gewendet das Alpenkar zu durchqueren und mir allmählig den vollen Ueberblick des Gebirgsgrates und namentlich seines westlichen Theiles zu eröffnen. Dort, wo die "Rothe Flüh" ("Gimpel") stehen mußte, suchte ich meinen Gipfel. — Mit einiger Ueberraschung sah ich das Panorama in dieser Richtung sich entwickeln; der buschbehangene Schrofenkamm, dessen Fuß auf die Terrasse der Nesselwängler Alpen sich stellt, trat allmählig zurück und gab dem Blicke Raum, in das Innere eines weiten und tiefen, mit Schuttmassen und Schneefeldern erfüllten Bergkessels zu dringen, in dessen Hintergrunde die starre Säule der "Rothen Flüh" ("Gimpel")und der von ihr südwärts abgeneigte "Haldenspitz" ("Rote Flüh") alsbald wieder erkannt wurden.

Von letzterem herab senkt gegen Osten sich der Schrofengrat, der an den Nesselwängler Alpen sein Ende erreicht, von ersterem dagegen zieht in gleicher Richtung der Hauptgrat fort, eine endlose Reihe zerhackter Felszähne. Mit zerklüfteten Steilwänden von ein paar hundert Fuß Höhe setzt er auf die Geröllflächen nieder, welche die oberste Zone des Berggehänges bedecken. Im Osten schliesst er an ein zerrissenes Gemäuer, ziemlich massig basirt auf dem Scheitel einer grünen Bergrippe, welche meinen weiteren Ausblick verhindert und mich über die Bedeutung dieses Felsenbaues ziemlich im Unklaren läßt; mir ahnte aber bereits, daß derselbe etwas mehr zu sagen haben mochte, als es hier unten erschien, und daß ich, am vorgesetzten Zielpunkte angelangt, möglicherweise gar nicht das erwünschte Ziel, den Gipfel der Gruppe, erreicht haben könne. Schon diese Vermuthung brachte eine gewisse Unsicherheit in meine weiteren Pläne und deren Ausführung; gesteigert wurde diese Unsicherheit noch durch die Verhältnisse, welche das offen gelegte Schlusskar der Gebirgskette mir vorführte. Wäre ich in den Algäuer Bergen nicht bereits so mancher Negation [12] früher gewonnener Erfahrungssätze begegnet, hätte ich in der Behandlung von Kettengebirgen überhaupt bereits grössere Erfahrung besessen, es hätte mir keinen Augenblick zweifelhaft sein können, daß ich den Anstieg an meinen Gipfel aus diesem Kar zu suchen habe, und nirgends anders, als in diesem Kar vernünftiger Weise ihn zu finden erwarten könne. Mochte das Gewände dort auch noch so steil und plattig aussehen, — es war dann eben ein schwieriger Anstieg, aber jedenfalls nur auf kurze Strecke; im Kar aufwärts gehend, drang ich jedenfalls am weitesten in’s Herz des Gebirges vor, und gewann an absoluter Höhe am meisten. Wie gesagt, es waren diese Erfahrungssätze mir zwar nicht fremd, aber doch noch nicht genügend festgestellt, nicht hinlänglich in Fleisch und Blut übergegangen, wie diess nach den Wanderungen des folgenden Jahres, in den Ketten des Karwendel, bald genug geschehen war.
 

Blick auf Schartschrofen, Gimpel und Rote Flüh um ca. 1950 Ich schwankte, — der Anstieg aus dem Kar, obwohl ich eine Linie, wo die Ersteigung vielleicht möglich, schon wahrnahm, erschien mir zu schlecht, halb und halb zog mich’s überhaupt gegen Osten, wo ich einen neuen, mir noch ganz unbekannten Gipfel witterte — andererseits wollte ich doch von dem ersten Ziele nicht ablassen; und so wählte ich denn einen goldenen Mittelweg — im Gebirge das Allerschlechteste. Ich suchte eine Scharte im Gebirgsgrate zu gewinnen, und mir vorerst die jenseitigen Abhänge zu betrachten. Die einzige Möglichkeit hierzu bot sich mir nahe dem Fuße des Mauerstockes, der meine Aufmerksamkeit bereits erregt hatte. Die steilen, vom abgeronnenen Schneewasser schlüpfrig gemachten Grashalden ersteigend, gelangte ich an die Schuttlager des Fußes der Wände, längs derselben in einen trümmererfüllten Graben, von steilem Geschröf eingeengt; es zeigten sich hier noch Spuren eines Steiges, und ohne Mühe gewann ich, 2 1/2 Stunden nach dem Aufbruche von Nesselwängle, die Scharte — Drüben verworrenes Gezacke, Schneegräben sich hinunterstreckend zwischen Klippenreihen, in der Tiefe sich weitend und zu breiten Strömen von Gerölle zusammenfliessend; von einer Uebersichtlichkeit der Gebirgsflanke keine Spur, ihre Gangbarkeit durch den abgerissenen Steilwandkörper der nächsten Spitze auf dem Grat bereits sehr in Frage gestellt. Zu meinen Füssen dunkelten die Waldgründe des Reinthales, kein Wiesenfleck, keine Alphütte war dort zu erspähen; sein Hintergrund schliesst weitgespannt, in öde Schuttkare ausstrahlend, von zahnigem Grate umrandet, im Westen. Jenseits lagert der eintönige Rücken der Flüh ("Gimpel"), Krummholz und einige Alpweiden bekleiden seine Abhänge. Im Osten ragen mir zunächst einige Zackenthürme auf, und was dahinter steckt, Weiß der Himmel.

Es ist mir nicht mehr ganz erklärlich, an was ich eigentlich dachte, als ich in westlicher Richtung auf dem Grate fortzugehen, d. h. den nächsten Spitz anzusteigen begann; daß auf der Schneide nicht durchzudringen sei, konnte ich ja im Vorneherein wissen. Anfangs ging es über Rasenstufen ziemlich gemächlich aufwärts, ich lugte gelegentlich rechts hinüber, ob sich keine Aussicht auf eine gangbare Bergflanke eröffne, aber davon war keine Rede. Dann zog der Grat sich enge zusammen, leitersteil ging’s über die Schrofen empor, Steilwände zu beiden Seiten; gleich darauf war ich denn richtig auf dem „Gipfel", einem Grätchen von ein paar Schritten Länge und nicht ganz einem Schritte Breite, senkrechter Absturz vor mir; da stand sie nun recht hübsch im Westen, die "Rothe Flüh" ("Gimpel"). Und gar im Osten, — Himmel, da war aus dem ruinenartigen Gemäuer ein Felskegel herausgewachsen, so wildschroff und zähnestarrend, wie ich kaum jemals noch einen gesehen; dacht’ ich’s doch, daß dort erst der Rechte stecke! und von welcher Seite ihn fassen? Von derjenigen, die ich sehe, gewiss nicht. — Die besten Morgenstunden verbraucht, der blaue Horizont fängt bereits an mit Dunstballen sich zu füllen, ein Gewitter wird heute nicht lange mehr auf sich warten lassen. Der gesuchte Gipfel unerreichbar vor mir, ein neuer gefunden, an welchem ich mich erst recht nicht auskenne — gratulire zum Geburtstag! — Meine Eroberung zweifelhaften Werthes verlassend, stieg ich wieder herab zur Scharte; höchst unbehaglich auf der engen, jäh abschiessenden Gratkante, auf welcher überdiess alles wackelig ist. Wenn einer dieser Blöcke zur Unzeit überkippt, so weiß ich wenigstens ganz genau, wie alt ich geworden bin.
 

Indess erreichte ich glücklich wieder den Fuß des Zackens; es fragte sich nun, was weiter zu beginnen sei. Zurück, von wo ich gekommen, und in’s westliche Kar, um einen rationellen Anstieg zu versuchen — das wäre entschieden das Vernünftigste gewesen. Aber nun zog der neuentdeckte Gipfel kräftiger mich an, ich beschloss, an ihm mein Heil zu versuchen, beziehungsweise mit einer Umgehung seines Fußes irgend welche Schwäche ihm abzulauschen. Das wäre nun auch vollständig in der Ordnung gewesen, hätte ich nur sicher gewusst, daß ich mit einem isolirten Kegel es zu thun habe. So war er mir, von einem einzelnen Standpunkte aus, erschienen, — wusste ich auch, ob er in anderer Richtung nicht mit langgestrecktem Grate sich fortsetze? — Meine spätere Theorie und Praxis, geradlinig anzupacken, wo man nun einmal steht, anstatt mit ungewissen Umgehungen zu experimentiren, wäre hier am rechten Platze gewesen.

Blick über Tannheim auf Gimpel, Rote Flüh und Schartschrofen um ca. 1960 Ich wandte mich nach Süden zurück und, nachdem ich den Trümmergraben, der mich herauf geleitet, wieder im Rücken und freies Terrain vor mir hatte, gegen Osten. Bald hatte ich den grasbewachsenen Bergkamm, auf welchen die am weitesten vorgestreckte Mauerrippe niedersetzt, erreicht, sah vor mir einen neuen tiefgründigen Thalkessel, steile Grasflächen an seiner Umrandung, eine Alphütte in der Mitte seines Beckens. Ostwärts dehnten sich die Steilwände meines Gipfels fort, immer abschreckender und unnahbarer, von wüsten Schutthalden umlagert; eine herabgesenkte Zackenrippe nöthigte zu neuer Umgehung und zu weiterem Verluste an gewonnener Höhe.

Die GeröllhaldenDie Geröllhalden durchquerend, die steilen Graslahnen des jenseitigen Abhanges im Zickzack ansteigend, näherte ich mich dem Bergscheitel, welcher bislang die Grenze des Ausblickes gegen Osten mir gebildet hatte. Noch war er nicht völlig erreicht, als über seiner grünen Kammlinie ein blanker, hochgeschwungener Felsthurm emportauchte, noch gewaltiger scheinbar und noch unangreifbarer als der, mit welchem ich eben mir zu schaffen machte. Vor meinen Füssen lag, in die Nordseite des Gebirges eingebettet, ein ziemlich tiefer und weiter Alpenkessel, einige Hütten in seinem Grunde; südwärts ausgebogen zog der Grat als Steilmauer von geringer Höhe hinüber, an jenen neuen Gipfel im Osten sich anzuschliessen. Ich war mit meiner Orientirung so zu sagen bankrott. Diessmal blieb ich aber doch bei dem Gipfel, dessen Anstieg beabsichtigt war, ohne durch das neue Bild zu noch weiterem Jagen mich verleiten zu lassen; kam ich mir ja doch nachgerade vor wie der Knabe, welcher dem Regenbogen nachläuft.

Ein ungünstiger Stern waltete über jenem Tage — diessmal wäre ich mit dem Weiterjagen zu einem Resultate gelangt, das Gelingen der erstbeabsichtigten Ersteigung war dagegen längst schon verpasst. Ich stieg in’s Alpenkar hinab, hielt mich aber an seinen Gehängen möglichst hoch zur Linken, hoffend, irgendwo in den Wänden auf eine ersteigbare Stelle zu treffen. Umsonst, nur steile Mauern und zackige Absenker starrten mir vom Rande der Geröllfelder entgegen. So gelangte ich bis an den Fuß des am weitesten nördlich vorgerückten Eckpunktes jenes Seitenkammes hinaus, wo endlich etwas Krummholz seine jähen Flanken überzog. Aufkletternd gewann ich rasch einen niedrigen, kahlen Gipfelscheitel und mit ihm den Rückblick gegen Westen. Eine weite Gebirgsbucht hatte dort sich geöffnet. Mächtige, zerklüftete Wände, von scharfgeschnittenen Zinnen gekrönt, bilden ihre Umrahmung, Trümmerkessel und schuttüberronnene Schneelehnen ihren ummauerten Grund. Als gewaltiger Schlussstein dieses Felsenkranzes thront im Osten auf dem Grat der Gipfel, den ich mir zum Ziele gesetzt und den ich, wähnend, seinen Körper unmittelbar zu umgehen, nun weit im Osten hinter mir gelassen hatte. Noch versuchte ich, von dieser Seite mich ihm zu nahen, auf den schmalen Grasbändern und längs der Gesimse der Wand in’s Innere des wilden Amphitheaters vordringend, bis daß die letzte umgangene Felsenecke vor den Steilabsturz mich stellte und die Unmöglichkeit eines Unternehmens nachwies, das bereits in verschiedene unangenehme Situationen mich verwickelt hatte.
 

Zurück mußte ich nach der vorgestossenen Bergschulter, von welcher ich ausgegangen, und von dieser wieder hinab auf den Alpengrund. Auch diese Hütten (die Kelleralpen) standen leer; ohne weiteren Plan, im niederdrückenden Bewusstsein eines totalen Misserfolges, begann ich den Abstieg gegen das Reinthal; um das Maß voll zu machen, suchte ich den Weg links des Grabens, welcher an diesen Alpen beginnend tief in den Fuß des Gebirges hinabschneidet, während derselbe rechts dieser Schlucht zu finden gewesen wäre. Das brachte zwar keine Gefahr mit sich, aber Mühe genug im holperigen Boden des Urwaldes und im verworrenen Gestrüppe. Nach nahezu 8 ständigem Marsche von Nesselwängle her betrat ich, ohne irgendwelches Resultat erzielt zu haben, die Sohle des Reinthales und überschritt den kleinen Bach, welchen dasselbe zum Lech hinaus sendet. Meine Wanderung ging thalein — ich wusste ebenfalls nicht, warum; vielleicht im Hintergrunde wieder ansteigen und mit dem ersten der angestrebten Gipfel, mit der "Rothen Flüh" ("Gimpel"), einen neuen Versuch beginnen.
 

Blick vom Gaichtpass auf die Tannheimer Berge um ca. 1960 Da plötzlich tönten Axtschläge mir entgegen. Also doch ein menschliches Wesen in dieser Waldeinsamkeit! Ich lenkte den beschleunigten Schritt nach jener Richtung. Der Wald lichtete sich, ich gewahrte eine niedrige Rindenhütte, wie die Holzarbeiter im Gebirge für zeitweiligen Aufenthalt sie sich zu bauen pflegen und ein paar hundert Schritte weiter traf ich die Leute selbst, einen älteren und einen noch jungen Mann, beide Tiroler. Meine Frage nach dem Gebirge und seinen Gipfeln fand unerwartet befriedigende Antworten; ich erfuhr, daß es in der That der höchste Gipfel des Gebirges sei, um welchen ich herum gegangen, daß von einer Ersteigung desselben von Osten keine Rede sein könne, daß dagegen die Scharte, auf welche ich von Nesselwängle geradesten Weges heraufgekommen, eben der Punkt sei, von dem aus der scheinbar unersteigliche Kegel gefasst werden müsse. Sein Name ist "Kellerschrofen" ("Kellespitze") oder wohl auch eine andere, höchst unästhetische Benennung, welche gewöhnlich auf den Karten figurirt; ich substituire ihr die erstere, um etwaigen Leserinnen gegenüber nicht in Verlegenheit zu kommen mit der Erzählung meiner Bergpartie.

Der ältere der beiden Tiroler war auf dem "Kellerschrofen" ("Kellespitze") oft bereits gewesen und bestätigte mir, daß wenn man den richtigen „Schluf" [13] nicht finde, allerdings schwer hinauf zu kommen sei. Des Experimentirens ziemlich müde, fragte ich ihn, ob er mich führen wolle und erhielt bereitwillig zusagende Antwort. Am liebsten wäre ich sofort wieder abmarschirt, die Nesselwängler Scharte zu gewinnen und die neue Besteigung anzutreten. Aber mein Gewährsmann prophezeite mit aller Bestimmtheit den baldigen Ausbruch eines Gewitters und rieth, zu warten. Er hatte Recht; kaum eine Stunde später lag das einsame Waldthal im Dunkel, vom Leuchten der Blitze nur auf Momente grell erhellt, die wolkenumhüllten Felsen gaben das Donnerrollen in hundertfachem Echo wieder, und in Strömen stürzte der Gewitterregen herab. Wir sassen selbander [14] im Rindenhüttchen und verzehrten den Mittagsschmarrn. Als aber gegen 3 Uhr Nachmittags das Wetter vertobt, der Regen nachgelassen hatte, schon hier und dort die Wolken zu brechen anfingen, da drängte ich mit aller Entschiedenheit zum Aufbruche. Mein Tiroler sprach zu wiederholten Malen seine Verwunderung aus über meine „Courage", womit er übrigens nicht den Muth, es mit einem gefährlichen Berge aufzunehmen, sondern die Ausdauer meinte, nach so langen Irrgängen, unermüdet von Neuem zu beginnen; eine kleine Bereicherung des alpinen Conversationslexikons. Durch niedrige Gebüsche gingen wir noch eine Viertelstunde weit thalein, den stark vortretenden Körper des "Kellerschrofen" ("Kellespitze") auf unsere linke Seite zu bekommen. Vor uns öffnete sich der Thalschluss, das weite Kar, mit seinem Zackenrande, in seiner südwestlichen Ecke die "Rothe Flüh" ("Gimpel"). Spärliche, oft unterbrochene Grasstreifen durchstreichen ihre steilen Nordflanken.

Mein Führer sagte mir, daß eine Ersteigung in dieser Richtung wohl möglich, aber schwierig auszuführen und namentlich auszufinden sei; weit besser sei es, von Süden her aus dem Kar der Nesselwängler Alpen anzusteigen. Erste Unterlassungssünde dieses Morgens! — Zu unserer Linken hatte eine weite, steil hinanziehende Bergmulde sich aufgethan, an der Scharte culminirend [15], welche den Uebergang nach Nesselwängle gestattet. Langgestreckte Schneelehnen [16] füllten ihren Grund und breite Geröllhügel lagerten an ihrer Ausmündung. Wir wendeten uns und begannen den Anstieg. Erst über Schutt, dann über Schnee, — in der Mitte des Gehänges einen steileren, jedoch auf Rasenstufen gut gangbaren Absatz hinan und dann wieder starkgeneigte Schneefelder stufentretend hinauf, erreichten wir nach 1 1/2 Stunden den hügeligen Boden an der Nesselwängler Scharte wieder. 12 Stunden vorher war ich an der gleichen Stelle gewesen. Und nun wurde in östlicher Richtung der gerade Angriff unternommen. Einen kleinen Vorgeschmack dessen, was dort sich bieten würde, hatte bereits die Wanderung durch das Kar und über die Schneelehnen herauf mir gegeben; das Massiv des "Kellerschrofen" ("Kellespitze"), welches diesen unseren Weg an der linken Seite begleitete, hatte in unausgesetzter Folge alle seine Kaminklüfte, die Zackenrippen, welche dieselben trennen, vor unseren Augen entwickelt und namentlich waren es die letzteren, welche, meist nur ihr scharf abgerissenes Ende weisend, in den abenteuerlichsten Gestaltungen sich gefielen. Von der Scharte selbst aus sahen wir wieder nichts, als die scheinbar zusammenhangslosen Schrofenhöcker auf dem Grat, welche von dem mächtigen, hinter ihnen verborgenen Gipfel nur eine höchst schwache Ahnung gaben. —

Der erste Anstieg gestaltete sich noch ziemlich natürlich längs der Grasplätze in der Nordflanke des Grates; die ausstrahlenden Klippenreihen fortwährend nach der Tiefe umgehend, befanden wir uns bald am Rande einer breiten, von Steilmauern eingefaßten Geröllschlucht, ein kurzer, aber scharfer Abstieg brachte uns auf deren Sohle hinab. Wir hatten damit bereits eine der großen Klüfte im Körper unseres Gipfels gewonnen, welche in grosser Zahl denselben durchschneiden, gegen das Reinthal jedoch, beziehungsweise gegen die breite Bergmulde, welche uns zum ersten Anstiege gedient, mit Wandabstürzen ausmünden. Von diesen großen Einschnitten ab beginnt die Zerklüftung und Zertheilung der Felsmassen in’s kleine und kleinste Detail. Einen bezeichnenden Charakterzug, welcher die Ersteigungslinie im Voraus bestimmen läßt, würde man an diesem Gebirge vergebens suchen. Geschlossen starrt die Wand dem Ankömmling entgegen, mag er von dieser oder jener Seite dem Gipfel sich nahen. Tritt er aber erst unmittelbar an’s Felsengerüste heran, da lockert und verschiebt sich sein Bau, von senkrechten, oft überhängigen Zacken bedroht, arbeitet er sich gleichsam in’s Eingeweide des Berges hinein und leitet genaue Ortskenntniss oder glückliches Errathen seine Schritte, so arbeitet er sich aus diesem Labyrinthe auch wieder hinaus, in’s Freie, auf den Gipfel. Größer allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, daß er in eine unrichtige Ader sich versteigen und wo dieselbe als senkrechte Spalte in die Wand verläuft, stecken bleiben werde.

So zeigten sich denn auch in der Steilwand jenseits des Geröllbodens der Spalten und Kamine gar mannigfache: mein Führer wählte eine, unserer Abstiegsstelle ziemlich gerade gegenüber gelegene zum Eintritt in’s Gemäuer, äussernd, "daß wir den Rückweg auf der andern Seite" nehmen würden. Die Kluft ging nicht gerade aufwärts, sondern wand sich um die vortretenden Schrofenecken hin und her und bot bei jedem Schritte fast ein neues Bild. Die düsteren Nebel, welche noch immer um die Zacken hingen, vermehrten das seltsam Fremdartige unserer ganzen Umgebung. Noch heute tauchen mir oft Bilder verworrener, phantastisch geformter Klippengruppen auf, die ich irgendwo gesehen haben muss — aber ich kann sie nicht mehr einreihen an den gehörigen Ort. Ich habe Grund zu glauben, daß die Mehrzahl derselben auf den "Kellerschrofen" ("Kellespitze") sich zurückführen liesse. Eine Gabelung der Schlucht, an welcher wir uns links wandten, dann eine Versperrung dieses Astes durch einen mächtigen, heruntergestürzten Felsblock, bereitete unserem Aufsteigen die bedeutendsten Schwierigkeiten. Oberhalb dieser Stelle ging es bald besser, der Graben weitete sich aus und bröcklige Stufen bildeten seine Sohle. Königin Marie von Bayern Bald war jede Spur einer Einsenkung verschwunden. Breit und trümmerbedeckt wölbte der Gipfelscheitel sich zusammen; wenige Minuten noch und wir betraten sein Haupt, auf welchem ein halbverfallenes trigonometrisches Signal steht (6901’ 2242 m. Lamont). Gegen Süden stürzen vom Gipfelplateau weg unmittelbar die Wände zur Tiefe nieder; nordwärts streckt sich ein kurzer. Grat gegen das Reinthal vor; von Westen her schliesst die Zackenschneide der "Rothen Flüh" ("Gimpel"), von Osten ein gangbarer Geröllrücken an den Gipfel. Letzterer würde das Absteigen von demselben gegen Osten ohne Schwierigkeit gestatten bis zur nächsten Gratscharte, von welcher wieder ein minder bedeutender Felsspitz sieh erhebt. Jeder Weiterweg von dort wäre jedoch abgeschnitten. — Wir hatten von der Nesselwängler Scharte nicht ganz 1 Stunde bis auf den Gipfel des "Kellerschrofen" ("Kellespitze") benöthigt. Seine Besteigung ist, wenn auch auf richtiger Anstiegslinie nicht von übermässiger Schwierigkeit, doch denjenigen Touren beizuzählen, welche eine höhere, als die den Bergtouristen gewöhnliche bergsteigerische Gewandtheit erfordern. Es war mir nicht eben sehr verwunderlich, daß mein Tiroler mir erzählte, er habe schon mehrmals Herren auf den "Kellerschrofen" ("Kellespitze") geführt; mit nicht geringem Erstaunen aber hörte ich von einer Ersteigerin, die, ebenfalls unter seiner Führung, dies schroffe Felsenhaupt betreten: diese Ersteigerin ist Königin Marie von Bayern.

Es war 1/2 6 Uhr Abends; die Regenschauer, die als Nachzügler dem ersten Gewitter noch gefolgt waren, hatten aufgehört, aber dichtes Gewölke umhing den Gesichtskreis und verhüllte die Gebirge in unserer näheren und ferneren Umgebung, oft auch unseren Gipfel selbst, der dann wie eine Felseninsel im grauen Meere dahinzutreiben schien. Auf Augenblicke aber zerriß der Wolkenschleier und zeigte bald im Osten die "Gernspitze" ("Gehrenspitze"), bald im Westen die Doppelgestalt der "Rothen Flüh" ("Gimpel") mit dem "Haldenspitz" ("Rote Flüh"), beide unverkennbar unter unserem Niveau gelegen. Offener war der Ausblick gegen Norden, ins Reinthal und auf den Bergkamm jenseits desselben, weiter hinaus aber, in’s flache Land, reichte auch diese nicht. Noch seltener war im Süden von den Gebirgen des Birkthals und der Vilsalper Gruppe etwas zu erblicken. Ein lichter Schein im fernen Westen gab Hoffnung auf Klärung des Horizontes bei Sonnenuntergang, so lange aber konnten wir nicht warten. Nach halbstündigem Aufenthalte verliessen wir den Gipfel. Gleich darauf umringte uns wieder das Düster eines schroff ummauerten Felsengrabens.
 

Es war in der That ein anderer, als jener, durch welchen wir heraufgekommen; nur wollte mir die Richtung, welche derselbe nahm, von Anfang an nicht recht einleuchten, da dieselbe gerade gegen Norden, eher gegen Nordwesten zeigte, während wir, wollten wir auf eine andere Seite herabkommen, augenscheinlich gegen Osten zu gehen hatten. Doch war die Orientirung bald sehr schwierig geworden, da auch dieser Graben zahlreiche Windungen beschrieb und dichter die Nebel auf die Felsgestaltungen sich herabsenkten; seltsame Gebilde von Zinnen und Thürmen, Nadeln und Obelisken begleiteten wieder, halb verschleiert, unseren Weg, er krümmte sich, gleich wie durch enge Gassen fremdartiger Bauwerke, einer Stadt, die von Menschen nicht erbaut noch bewohnt ist. Nach einiger Zeit verliessen wir die Kluft, kletterten an einer breiten Schrofenrippe vorbei und befanden uns bald in einem neuen Einrisse, der uns wieder ein Stück weit thalwärts führte. Von seiner steilfallenden Ausmündung weg kamen wir auf eine breite Geröllschlucht, in welcher wir etwas aufwärts zu steigen hatten, um jenseits einen gangbaren Ausweg zu finden. Mit einigem Erstaunen erkannte ich in dieser Schlucht die gleiche, von welcher aus unser Anstieg begonnen hatte, und nun erst wurde mir klar, daß lediglich von einem veränderten Abstiege nach der nämlichen Seite hinunter die Rede gewesen sei. — Bald waren wir auf der Nesselwängler Scharte zurück und eine Fahrt über die Schneefelder brachte uns rasch zum Reinthale hinunter.
Es dämmerte bereits stark, als wir bei der Hütte angelangten. Wie ich vorausgesehen, hatte sich der Himmel völlig geklärt und über den bleichen Gipfelmauern erglänzte da und dort ein freundlicher Stern. —

Frostig war die Nacht, und es kostete wenig Ueberwindung, das kalte Lager zu verlassen, als die Holzer [17] des andern Morgens frühe das prasselnde Feuer schürten. Kaum noch hatte das nächtliche Dunkel sich gelichtet, als wir die Rindenhütte verliessen und thalaus wanderten. Nur kurze Zeit sollten unsere Wege die gleichen bleiben. Der Aeltere der beiden Holzer ging nach Musau am Lech hinaus und verfolgte daher den Thalweg des Reinthales. Der Jüngere wollte nach Reutte zur Kirche; sein Weg führte ihn nahe an der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") vorüber, welche ich zunächst zu besuchen gedachte, er wollte mir bei dieser Gelegenheit die Stelle zeigen, von welcher aus ich am besten ansteigen würde. Beide hatten zur Morgenwanderung ihre Gewehre mit sich genommen; sie waren ihrer Aussage zufolge Pächter der Jagd in diesem Thale — ob es mit diesem "Pacht" so ganz richtig war, weiß ich nicht zu sagen. Aus dunklem Hochwalde führte der Pfad uns auf eine Wiesenlichtung, der Aeltere, welcher uns ein paar Schritte voraus war, blieb plötzlich wie gebannt stehen und bedeutete uns durch Zeichen, ein Gleiches zu thun. Kaum sichtbar im Dämmergrau zeichnete die Gestalt eines stattlichen Hirsches vom jenseitigen Waldsaume sich ab. Der Holzer ließ sich auf ein Knie nieder, nahm lautlos die Büchse von der Schulter und zielte. Das Gewehr versagte, und der Hirsch empfahl sich; großes Bedauern der ganzen Gesellschaft. —

Gleich darauf theilten sich unsere Wege. Mit herzlichem Händedruck nahm ich Abschied von meinem Führer auf den "Kellerschrofen" ("Kellespitze") und stieg mit seinem Gefährten zur Terrasse der Kelleralpen hinauf; ein allenfalls dort grasendes Wild nicht zu verscheuchen, gebrauchten wir auf dem holperigen Wege die Bergstöcke nach Jägersitte verkehrt, die Eisenspitze nach oben gerichtet. Aber nichts Lebendiges war auf der Alpwiese zu erblicken. Wir hätten nun in südöstlicher Richtung den Grat zu übersteigen und die Südflanke des Gebirges zu queren gehabt, von wo dann mein Begleiter nach Reutte hinab, ich zur "Gernspitze" ("Gehrenspitze") hinaufsteigen wollte. Statt dessen machte jener mir den Vorschlag, über die "Gernspitze" ("Gehrenspitze") selbst wegzugehen, indem wir ihre gewaltig steile West-Wand anstiegen „wenn ich mir getraue". Natürlich ging ich bereitwilligst auf dieses interessante Project ein, und wir begannen von den Kelleralpen unmittelbar in westlicher Richtung den Anstieg. Erst hatten wir ein langgestrecktes Gehänge, mit Gestrüpp und Legföhren [18] bewachsen, von einigen Geröllschütten durchzogen, zu überwinden, um bis an den Fuß der Felsmauern zu gelangen: während wir dort emporstiegen, knallte es wieder im Thale. Mein Begleiter jammerte, der andere habe nun gewiß einen Hirsch geschossen, und da er nicht dabei gewesen, werde jener seine Beute verleugnen und den Gewinn allein einstecken. Auch das stille Gebirgsthal ist nicht frei von Selbstsucht und Eigennutz, so wenig wie die große Welt da draußen!
 

von Hermann von Barth angefertigtes Horizontalprofil vom Thannheimer Gebirge So drohend die Felsen auf uns auch niederblickten, so war die Erscheinung derselben doch genau die gleiche, wie am "Kellerschrofen" ("Kellespitze"); sie rückten auseinander und lösten sich auf in ein Gewirre von Zacken, Zinnen und Thürmchen, von tiefen, engen Klüften durchzogen, welche hundertfach gespalten in’s Gewände hinauf sich verzweigten. Es galt eben wieder in diesem Wirrwarr die richtige Linie zu finden in’s Freie hinauf. Die Grasplätze, über welche unser Weg emporführte, zogen sich bald schmal zusammen, nur einzelne Bänder und endlich blos zerstreute Rasenpolster noch am Felsen zurücklassend, der immer luftiger vor uns sich aufthürmte, immer jäher von unseren Füssen weg zur Tiefe sank. Der Rückblick gegen Westen zeigte uns die nadelstarrende Kegelgestalt des "Kellerschrofen" ("Kellespitze"), von der Morgensonne grell erleuchtet. —

Von Ecke zu Ecke drängten wir uns am Steilhange vorüber, wunderliche Klippen überragten und überhingen uns von Oben, von der rechten wie von der linken Seite. Wo immer ein Rasenplätzchen in den kahlen Fels sich einlagerte, erblühte zu Tausenden die prächtige Frühlingsblume der Berge — Primula auricula — Gamsblümchen; „Alpenrosen" nannte sie mein Begleiter. Um ein besonders scharf vorspringendes Riff auf schuhbreitem Grasbande biegend, forderte der Tiroler mich auf, das Gesicht gegen die Wand zu kehren und nicht nach der rechten Seite hinunter zu schauen. Natürlich that ich das Gegentheil, und was ich dort erblickte, war in der That der Betrachtung werth: ein völlig mauergeschlossener, trichterförmig sich verengender Felsenschlund, von den abenteuerlichsten Klippengestalten umrandet, die jemals mir vorgekommen, in senkrechter Tiefe, über welcher das schmale Gesimse unseres Weges, stellenweise sogar unterhöhlt, sich hinwegzog. Im geraden Anstiege längs einer Bergrippe, dann wieder nach der linken Seite einlenkend, gelangten wir in die eigentliche Region der Gräben, in deren Sohle wir fortan uns bewegten. Sie waren denen am "Kellerschrofen" ("Kellespitze") sehr ähnlich, jedenfalls eben so steil, enthielten jedoch weniger Gerölle und Trümmerwerk, dafür etwas mehr Graswuchs. Herrlich war der Ausblick aus diesen eingekasteten Schluchten gegen West, namentlich dann, wenn in den greifbar nahen Felsenrahmen des schmalen Bildes die imponirende Gestalt des "Kellerschrofen" ("Kellespitze") trat, ebenfalls felsenkahl, aber im Lichtglanze scharf abstechend von dem Schatten, der sie begrenzte. Wir stiegen fortan fast geradlinig aufwärts, bald zur rechten, bald zur linken Seite in einen Zweiggraben uns wendend. Mein vorausgehender Führer trug nach Jägerart sein Gewehr quer über die Achsel, den Lauf nach hinten gekehrt, dessen Mündung solchergestalt fortwährend vor mir herumbaumelte; ich war zu sehr Fatalist [19], um ein Wort darüber zu verlieren. Als wir wieder eine Bergrippe überschritten, kauerte mein Vormann plötzlich nieder, nahm die Flinte zur Hand, der Schuß krachte, und ein Schneehuhn — flog davon. Ich vergönnte dies dem Letzteren von Herzen und hatte meine Freude an dem Echo, das durch die Schluchten rollte und fern am "Kellerschrofen" ("Kellespitze") sich zurückbrach.

Wir kamen nun allmählig auf freieres Terrain; die Gräben weiteten und flachten sich aus, spärlich begrastes Gerölle deckte den Boden. Vor uns erhob sich in senkrechter Mauer ein gewaltiger Felsbau, links davon, weiter zurückliegend, zeigten sich einige grüne Plätze, welche von mir sofort als die gerade unter dem Gipfel der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") gelegenen wieder erkannt wurden. Ich hatte bereits höher zu stehen geglaubt. Quer auf der Nordseite des Gebirges hin leiteten uns Schuttbänder und enge Gesimse; der Durchgang, auf den ersten Blick ziemlich übel aussehend, zeigte sich in der wirklichen Ausführung weit zahmer, als ich gedacht. Dann ging’s schräg über die grünen Plätze, noch ein Stück weit Schrofenstufen hinan, zum Hauptgrat; wenige Schritte weiter östlich schwingt letzterer zum Gipfel sich empor (ca. 6850’ 2225 m.). Die Gestaltung des letzteren ist äußerst seltsam: ein halboval von Süden nach Osten und Norden sich herumbiegende, etwa 15 Schritte lange Felskante stürzt mit senkrechten Mauern zu einer brunnenartig umschlossenen Tiefe nieder, man möchte an einen eingebrochenen vulkanischen Krater denken und im Geiste das Bild der Feuerfluten sich ausmalen, die gen Reutte sich hinabgiessen, der Pinie [20], welche über das Lechthal ihren Aschenregen niedersendet; schade, daß ein Stückchen Wettersteinkalk, vom Boden aufgelesen, dies Phantasiebild von Grund aus zerstört.
 

Aus dem Thale herauf drang der Schall der Glocken, sie erinnerten meinen Führer, daß er um 10 Uhr zur Kirche müsse, und wir brachen um 8 Uhr wieder auf. Eine Strecke weit wanderten wir in östlicher Richtung den Grat entlang, welcher mäßig steil fällt und ziemlich ausgiebig bewachsen ist. Dann stiegen wir in einem der vielen Einrisse, welche die Südflanke des Gebirges durchschneiden, in’s grüne Becken der Gernalpen nieder. Der Graben war steil, stellenweise deckten glatte Lahnen seinen Boden; zu unterst engten Felsmauern seine Sohle ein, über die letzten, scharf abgebrochenen Mauerstufen kamen wir auf die Schuttfelder herab und bald darauf betraten wir die Alpwiese. Im nahen Westen löst der Grat des Hahnekamm ("Hahnenkamm") (5960’ 1936 m. Pechmann Not. z. Höhen-und Profilkarte Tirols) vom Hauptzuge des Gebirges sich ab, ein breitwelliger, grüner Bergrücken, mit wenigen, lichten Gehölzen besetzt. Sein äußerster südlicher Vorsprung, die Gachtspitze (6108’ 1984 m. Pechmann), scheint mit den Gebirgen des Birkenthales zu verwachsen, während thatsächlich die tiefe Schlucht des Weißenbaches, der Paß Gacht, beide Gruppen trennt. Hier schied ich von meinem Führer, der ostwärts nach Reutte hinunterstieg; ich hatte dagegen in westlicher Richtung die ganze Gebirgsflanke zu queren, um, wie in den Morgenstunden den östlichen, so zur Mittagszeit den westlichen Eckgipfel des Gebirges zu gewinnen und damit meine Aufgabe einem befriedigenden Abschlusse entgegenzuführen.

Ein gebahnter Alpenpfad leitete mich über das theils begraste, theils schuttdurchstrichene Seitengehänge der Bergmulde, ich hatte vorerst die "Gernspitze" ("Gehrenspitze") zu umgehen und den Gratübergang an ihrem westlichen Fuße in’s Kar der Kelleralpen hinüber zu gewinnen; letzterer lag ziemlich hoch über mir, ich konnte aber von der horizontalen Querlinie vorerst noch nicht abweichen, da die schroffen Absenker des Steilwandmassivs der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") zu tief in’s Gehänge herabgriffen. Vom westlichen Rande der Mulde begann ein halbstündiger ermüdender Anstieg über steile Grashalden und Erdrutsche hinauf zum Grat. Dieser wurde überschritten und hart am Fuße der Mauern, welche seine westliche Forterstreckung auf die Weidegründe der Kelleralpen niedersetzt, die Mulde der letzteren gekreuzt. Ein paar hundert Schritte Anstieg brachten mich neuerdings auf den Grat, an den Fuß des "Kellerschrofen" ("Kellespitze"). Nun hielt sich mein Weg-wieder an der Südflanke des Gebirges, Kar ein, Kar aus, in umgekehrter Richtung, wie Tags vorher, aber mit etwas klarerer Formulirung meiner Absichten. 3 Stunden nach Verlassen des Gipfels der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") trat ich auf den Höhenrand des Beckens der Nesselwängler Alpen wieder aus, und in schrägem Abstiege, die Nesselwängler Scharte zur Rechten, den grünen Alpenboden zur Linken lassend, wanderte ich in’s Kar herunter, dessen weit gegen Westen sich dehnende und hebende Einbuchtung bis an den Fuß des neuen Zieles mich geleiten sollte.
 

Ueber die krummholzbewachsenen Trümmer, über die schwachbegrünten Wellenhügel drang ich in mässiger Steigung gegen das Innere vor; bald war der Schrofenkamm, der über den Nesselwängler Alpen abbricht, auf meine linke Seite getreten, verschloßener war mir wieder die Welt, einsamer die Felsenöde um mich herum. Endlose Schutthalden streckten sich empor zur letzten Höhe des Kars, zur enge eingeschnittenen Scharte zwischen dem "Haldenspitz" ("Rote Flüh") und der "Rothen Flüh" ("Gimpel"). Mein Weg führte nicht bis dort hinauf; denn beide Kegel, namentlich aber der nördliche, höhere, setzten unnahbar steil auf dieselbe nieder. Seitlich am Abhänge der Geröllfelder mich haltend, verfolgte ich die schwache Spur eines Schafsteiges, der wenigstens theilweise das Abgleiten im losen Schutte verhinderte und spähte nach der Möglichkeit eines Anstieges gegen Norden. Lange begleiteten dort nur pralle, jede Annäherung zurückweisende Mauern meinen Weg. Schon befand ich mich in mehr als halber Höhe des Kars, als nach Umgehung einer massigen, glattgerundeten Felsenecke der Einblick in eine enge, schräg gegen rechts hinaufziehende Kluft sich öffnete, deren Gangbarkeit zwar keineswegs gesichert, aber immerhin nicht außerhalb des Bereiches der Wahrscheinlichkeit gelegen schien.

Die Steigung war eine beträchtliche, der Felsboden stark abschüssig und nur geringe, schmale Haltpunkte bot er an Graspäckchen und abgebrochenen Gesimsen. Erstere zeigten sich durchweg fest und verlässig, während die Abstufungen und Vorsprünge des Gesteins selbst nur mit größtem Mißtrauen benutzt werden durften, — ein unangenehmer Charakterzug des ganzen Thannheimer Gebirges, in welchem es seinen geologischen Verwandten, der Karwendel- und Wettersteingruppe, vollkommen ähnelt. Man kann oft mehrere Felstrümmer nacheinander mit den Händen loslösen und in die Tiefe befördern, bevor man auf eine darunter liegende, feste Masse trifft. Indess hatte ich mich über diese untersten Steilstufen rasch emporgearbeitet, die Runse zog allmählig geradliniger und flacher in’s Gehänge hinein, und verlor sich auf breite, schüttere Plätze; noch etwas weiter aufwärts fand sich sogar wieder ziemlich reichlicher Graswuchs, auf dessen stufenförmigen Polstern die Grathöhe mit aller Bequemlichkeit gewonnen wurde. Westlich vor mir lag nun deren Erhebung zum Gipfel; all die starren Mauerzacken, deren lange Reihe mit dem "Kellerschrofen" ("Kellespitze") sie verbindet, hatte ich bereits im Rücken. Meinem letzten Anstiege stand kein nennenswerthes Hinderniss mehr entgegen; fast geradlinig streckt der Grat sich hinan, wenige, unbeträchtliche Höcker bildend. Nach 10 Minuten stand ich auf der "Rothen Flüh" ("Gimpel") (ca. 6800’ 2209 m.), und richtete auf ihrem massig breiten, trümmerbedeckten Scheitelplateau die umgestürzte Signalstange wieder auf. Ich war etwas über 4 Stunden von der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") unterwegs gewesen; Mittag war eben vorüber. Die eigentliche Ersteigung des Gipfels vom Geröllboden des Kars herauf hatte nur 1/2 Stunde in Anspruch genommen.

Haldensee mit Blick auf Rote Flüh um ca. 1960 Die Aussicht war, bei theilweise bewölktem Himmel, doch ziemlich klar geblieben. Wie auf der "Gernspitze" ("Gehrenspitze") gegen Osten, so erstreckte sie hier sich vornehmlich gegen Westen, auf das Nordalgäuer Gebirge. Die dreifach aneinandergereihten Pyramiden des Kugelhorn, Rauhhorn und Gaishorn über der dunklen Tiefe des Vilsalpsee’s — weiterhin das breitgedrückte Haupt des Daumen im Südwesten, die grünen Pfrontener Berge, aus denen die glattgeschorene Gestalt des Aggenstein emporstrebt, im Nordwesten; am fernen westlichen Horizont die Wellenlinien der Gunzesrieder Berge, der Stuiben-Rindalphornkette, etwas rechts davon der wohlbekannte Grünten. Zu Füssen das Thannheimer Thal mit seinen weithin zerstreuten, weißglänzenden Häusern, und mitten in seinem üppigen Grunde der schimmernde Spiegel des Haldensees. Vom Gipfel weg senkrechter Absturz auf tiefe, öde Trümmerhalden. Ich schleuderte Steine über den Rand hinaus und zählte 5 Sekunden, bis sie unten aufschlugen. Im Osten thronte jetzt wieder in wilder Majestät der "Kellerschrofen" ("Kellespitze") auf dem scharfen Grat, hart an ihn gedrängt zeigt sich zu seiner Linken die "Gernspitze" ("Gehrenspitze"). Der "Haldenspitz" ("Rote Flüh"), im nahen Süden stehend, liegt tief unter mir; aus dem Hintergrunde des Kars, durch welches ich heraufgekommen, wäre auch er, wenngleich nicht ohne Schwierigkeit, zu ersteigen.
 

Noch einen Blick und Abschiedsgruß sendete ich zurück in’s walddunkle Reinthal und wandte mich nach einstündiger Rast zurück nach Süden, dem Nesselwängler Thale zu. Von den Felsen herab in’s Kar, über seine losen Schuttflächen, seine Plattenhügel zu den Nesselwängler Alpen hinunter, und den gebahnten Zickzackpfad rasch abwärts zu den Häusern, den Menschen, und was im vorliegenden Falle mir das Wichtigste war, zum gedeckten Tische. Um 2 Uhr 30 Min. langte ich dort an, eine Stunde genügte zur Befriedigung der dringendsten, leiblichen Bedürfnisse: der lange, langweilige Heimmarsch wurde angetreten. Eine neue Rast wurde in Thannheim, und abermals eine in Hindelang gehalten; die tiefe Nacht deckte meine Rückkehr nach Sonthofen. Ein neues, noch wenig bekanntes Gebirge nannte ich mein; und heimgekehrt reihte ich die drei Steine, welche den Gipfeln der Thannheimerkette waren abgenommen worden, der bereits begonnenen Algäuer Sammlung an, in der Hoffnung auf deren baldige, weitere Vermehrung.
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung „Das Thannheimer Gebirge“ aus dem Buch „Aus den Nördlichen Kalkalpen“ von Hermann von Barth (1874) bzw. teilweise abgeändert nach dem Werk "Gesammelte Schriften" von Bünsch/Rohrer (1926) im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Mit Ausnahme der nach Original-Vorlagen des Verfassers lithographirten Gebirgsprofile und Horizontalprojectionen des Thannheimer Gebirges (Kunst-Beilagen aus dem Werk „Aus den Nördlichen Kalkalpen“ von Hermann von Barth, 1874) handelt es sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden aktuelle "Bergnamen" ergänzt und gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
Glossar:
[1] Gestade: das Ufer des Meeres oder eines Flusses, doch nur in der höhern Schreibart -->zurück
[2] Flysch: aus Schichten von Sandstein, Mergel, Schieferton u. Kalk bestehendes Gestein -->zurück
[3] genagelte Schuhe: In der damaligen Zeit waren die Sohlenböden der Bergstiefel durch die Holznagelung sehr steif und durch diese Nichtflexibilität der Sohle blieb der Legende nach im Jahre 1880, der Schuh des Goiserer Schuster Franz Neubacher bei einer Bergwanderung in einem Erdloch stecken. Der Bergführer mußte den Schuh zurücklassen und den Heimmarsch mit nur einem Bergschuh zurücklegen. Zuhause in Goisern angekommen, fertigte sich der Schuster Neubacher einen zwiegenähten Bergstiefel mit griffiger Sohle an. Der Urtyp des Goiserers besaß handgeschmiedete Eisennägel in den Laufsohlen, sogenannte Schenken und Spitzköpfe, damit waren die Schuhe trittsicher und rutschfest. (Schupflegetips.de/forum) -->zurück
[4] salviren: Salviren, retten, in Sicherheit setzen oder bringen -->zurück
[5] Lahne: LAHNE, f. im bairischen Sprachgebiete der lichte baumlose Streifen, der sich an einem Berge von oben nach unten zieht, Erdabrutschung (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) -->zurück
[6] manch harten Strauss zu bestehen: Strauß, Mehrzahl Sträuße, ein Wort, welches einen mit einem Getöse verbundenen Streit, einen Kampf, Handgemenge, ingleichen ein Gefecht, Treffen, bedeutet, in welchem Falle es ehemals sehr häufig war. Es ist im Hochdeutschen nur noch hin und wieder im gemeinen Leben üblich, wo man noch zuweilen hört: das war ein harter Strauß, ein harter Kampf, oder Streit (Oekonomische Encyklopädie) -->zurück
[7] Geschiebe: Geschiebe oder Geschübe, im Bergbaue, eine Erd- oder Steinart, welche durch eine äußere Gewalt, z. B. durch Ueberschwemmungen, aus ihren Wohnstätten gerissen, und an andere Orte, besonders auf und unter der Erde, geschoben oder zusammen geführet worden.-->zurück
[8] Pass Gacht: Gaichtpass zwischen Nesselwängle und Weißenbach -->zurück
[9] Gucker: mit Leckereien gefüllte Tüte (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) bzw. Augenglas, Zwicker, Opernglas (Oekonomische Encyklopädie ) -->zurück
[10] Geburtstag: Hermann von Barth ist geboren am 05. Juni 1845 -->zurück
[11] Krummholz: Bezeichnung für in höheren Bergregionen wachsende Holzgewächse, deren Stämme oder Äste vielfältig gekrümmt sind (Meyers Lexikon online) bzw. eine Art Kiefer (Pinus montana Linn.), deren besonderer Wuchs darin besteht, dass der Stamm und die Zweige eigentlich nicht gerade in die Höhe gehen, sondern auf der Erde gedrückt und unordentlich, oft kreuzweise durcheinander laufen. Die Zweige kriechen wohl 20 bis 30 Fuß vertikal, alsdann aber richten sie sich pyramidenförmig auf, selten jedoch über 10 bis 15 Ellen. Ein mit ihnen besetzter Platz ist deswegen für Menschen beinahe undurchdringlich (Oekonomische Encyklopädie von J.G. Krünitz http://www.kruenitz1.uni-trier.de) -->zurück
[12] Negation: Wiederlegung, eines Besseren belehrt -->zurück
[13] Schluf: Schluf, Schluff, Schluft: Ein enges Thal zwischen zwei Bergen, ein tiefer Wasserriß an einem Berge, ein hohler Weg wird in vielen Gegenden eine Schluft genannt (http://oewb.retti.info) -->zurück
[14] selbander: selbander nimmt oft den Sinn miteinander, zusammen, vereint u. ähnliches an (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) -->zurück
[15] culminieren: kulminieren (franz. culminer): den Höhepunkt erreichen, den Gipfelpunkt erreichen (duden.de) -->zurück
[16] Schneelehne: Schneelehne: schneebedeckter Abhang (http://oewb.retti.info) -->zurück
[17] Holzer: Holzfäller, Holzhacker, Holzfäller -->zurück
[18] Legföhren: Das Legföhren-Gebüsch, auch Latschen-Krummholz genannt, ist hauptsächlich in den Kalkalpen anzutreffen (http://www.sbg.ac.at/geo/projekte/projects/stubach/botanik/mugo.htm) -->zurück
[19] Fatalist: Fatalismus=eine Weltanschauung, die alle Geschehnisse dem Schicksal zuordnet -->zurück
[20] Pinie: Anschaulich spricht man von der Wolke über dem Vulkan: Aus der Pinie fällt die Asche in gleichmäßigem Aschenregen herab auf die weitere Umgebung des Vulkans, durch den Wind aber kann sie auf große Entfernungen hin verbreitet werden. -->zurück