Das Hohe Licht
von und mit Hermann von Barth (5./6. August 1869) veröffentlicht im Werk "Aus den Nördlichen Kalkalpen"

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 

Hohes Licht vom Bockkarkopf auf dem Heilbronner Weg aus gesehen Einer der unbekanntesten, seiner Struktur nach verwickeltsten Winkel der Algäuer Alpen ist es, welchem als Culminations[1] und in gewisser Beziehung auch als Knotenpunkt das Hohe Licht angehört. Leicht ersteigbar und doch fast nie besucht, ist sein Name, wenn je man ihn zu hören bekommt, überhaupt in ziemlich schwankender Bedeutung gebraucht und wird, namentlich von österreichischer Seite, häufiger fast auf den Biberskopf ("Biberkopf") als auf jenen Gipfel bezogen [2] , von dessen Besteigung und orographischen [3] Verhältnissen die nachfolgende Beschreibung handeln soll. Ein dominirender – wahrscheinlich der vierthöchste [4] – Gipfel im Hauptzuge der Algäuer Alpen, – ein kleiner, aber augenscheinlich wahrer Gletscher am demselben – ein Gebirgspass, über welchen man von Kar zu Kar fast ebenen Fusses hinüberschreitet, ohne zu merken, dass man die Wasserscheide zwischen Iller und Lech passirt – das wären sicherlich Momente von hinlänglichem Gewichte, um wenigstens Einige unter den vielen Hunderten von Bergtouristen, welche alljährlich das Algäu besuchen, zu einer Excursion in jener Richtung zu veranlassen. Doch geht es hier wie allerwärts in unseren Alpen: Was unbekannt, was ungenannt – das ist auch unbesucht. Wohl manches Dutzend Alpenwanderer mag seit dem Jahre 1869 den Daumen, das Gaishorn, die Mädelegabel, wohl auch den Hochvogel erstiegen und an der Erinnerung jener Hochtouren sich erfreut haben; nennt Einer solch' einen Namen, so weiss die Welt doch, wie und wo. Wer merkt auf einen fremden Namen, er leite denn aus den Gletschergebieten seien Ursprung her? – "Hohes Licht? davon haben wir nie gehört!" – Drum geizt der Bergtourist auch nicht darnach, sagen zu können: "Ich war auf dem Hohen Licht."
 

Wildes Männle in der Scharte um ca. 1955 vom Waltenberger Haus aus gesehen Einem neckischen Kobold gleich verfolgt dieser Gipfel den Bergwanderer; breit scheint er, vom Illerthale aus gesehen, auf dem Hauptgrate zu ruhen, als viertes Felsenhaupt der Mädelegabelgruppe westlich angereiht. An seinem Westfusse zeigt sich in lichter Gratscharte das Zäckchen des Wildmännle [5]. Rückt man dem Hochgebirge näher, in's Birgsauerthal und bis nach Einödsbach vor, so bleibt das Wildmännle stehen, ihm zur Seite aber krümmt sich ein zernagter, gestaltloser Grat empor, der mit dem Bockskarkopf ("Bockkarkopf") und mit der Mädelegabel sich verbindet. Ist die letztere selbst erstiegen, so steht ihr im Südwesten ein hoher, fast ebenbürtiger Kegelgipfel gegenüber, welchen ein ungeübtes Auge leicht als mit dem nahen Bockskarkopfe ("Bockkarkopf") direkt verbunden ansieht; verlässt der Ersteiger die Mädelegabel und wandert auf der weissen Decke des Trettachferners vorwärts in der Richtung auf jenen Gipfel hin, so erblickt er den pyramidalen Bockskarkopf ("Bockkarkopf") alsbald allein wieder vor sich und neben ihm, augenscheinlich weit zurückgerückt, den Kegel von vorhin, nun mit dreizackiger Schrofengabel gekrönt. Ersteigt er dagegen den Hauptgrat und einen seiner Gipfel im westlichen Theile des Illerquellengebietes, den Biberskopf ("Biberkopf") oder einen der Rappenköpfe, dann steht ihm jenseits tiefer Thalschlucht eine gewaltige, mit blendendem Schuttkleide überzogene Pyramide gegenüber, in weitgeschweiftem Zackenbogen ein eisiges Hochkar umspannend und mit dem Hauptgrate westlich der Mädelegabel sich vereinigend; – gen Süden entsendet ihr Fuss einen Sattelgrat mit jähen, durchschluchteten Abhängen, der abermals an Felsengipfel stösst, unter welchen der westliche Eckpfeiler eines gegen das Lechthal vorgeschobenen Parallelzuges, die Ellebognerspitze ("Ellbognerspitze"), aufragt. Hier erst vermag er die orographischen Verhältnisse richtig zu beurtheilen.

Bekanntlich streicht der Hauptkamm der Algäuer Alpen von der Mädelegabel bis zu seiner starken Depression am Rauhgernrücken und Schrofenpass in ausgeprägt südwestlicher Richtung; er bildet nahe der Mädelegabel noch den zu deren Gruppe gehörigen Bockskarkopf ("Bockkarkopf") (7950' 2580m), in weiterer Folge den zahnigen Grat des Wilden Mann (7902' 2567m), welcher zur Scharte absinkt, in welcher das bereits genannte Wildmännle (7359' 2390m) steht; weiter gegen Südwesten reihen Rothgundspitze (7627' 2478m), Hochgundspitze (7563' 2457m), die Rappenköpfe (7615' 2474m und 7438' 2416m) und endlich als mächtiger Schlusspfeiler der Biberskopf ("Biberkopf") (8014' 2603 m), sich an. Vom Scheitel des Felsrückens, welchen die bayerisch-tirolische Grenzbeschreibungskarte als den Wilden Mann bezeichnet, löst südwärts ein steilschrofiger, mehrfach zerspaltener Grat sich ab, welcher, an Höhe fortwährend zunehmend und schliesslich seinen Hauptgrat beträchtlich überbietend, gegen Westen sich herumbiegt und zu einem ca. 8000' 2600m hohen, zackigen Gipfel sich emporschwingt, welcher der Scharte des Wildmännle wieder fast genau gegenübersteht.
litografisches Hoizontalprofil vom Allgäuer Hauptkamm nach Original-Skizzen von Hermann von Barth Nordwärts stürzt derselbe ziemlich steilwandig in den weiten, gegen Westen offenen Mauercircus nieder, dessen innerste, stark abschüssige Partieen von den Eismassen des Hochalpferners bedeckt werden; gegen Westen und Süden dagegen decken endlose Schuttfelder die stark sich ausbreitenden Flanken der Pyramide; diess ist das Hohe Licht. Der Grat, der von seinem Fusse gegen Süden ausgeht, trennt das Kesselthal der Tiroler Hochalpe vom Schachenbach ("Schochenalpbach"), der im Süden der Mädelegabel und des Hochplateau's, welches den Trettachferner trägt, dem Höchbach und durch diesen dem Lech zufliesst; eine kleine, hochgelegene Thalebene des ersteren beherbergt die Rossgumpenalpe. Gegen Süden schliesst dieser Grat an einen kegelförmigen, nicht sonderlich hohen Felsgipfel an, und dieser wiederum verbindet sich einerseits mit der Ellebognerspitze ("Ellbognerspitze") (7835' 2545m), die südwärts mit breiter Abdachung zum Lech niederfällt, andererseits mit dem Parallelkamme, welcher, der Hauptkette der Algäuer Alpen vorgelagert, zwischen Ellebogen und Holzgau das Lechthal begleitet. Der Unterbau des Hohen Licht, die Wandabstürze der Terrasse, auf welcher die Hochalpe liegt und endlich das Felsgehänge der Ellebogner Spitze von der einen – der mehrfach durchschluchtete Steilabfall des gesammten, abschüssigen Hochplateau's, welches am Fusse der Rappenköpfe und des Biberskopf sich hinlagert, von der anderen Seite schliessen sich die tiefe Thalenge des Bibersbaches, welche im Kare des Hochalpferners und südlich des Wildmännle ihren Anfang nimmt und oberhalb Ellebogen in die Lechschlucht ausmündet.
 

Nahe einer kleinen, einzeln stehenden Alphütte in ungefähr der halben Höhe dieser Thalschlucht kreuzte ich am gewitterschwülen Nachmittage des 5. August 1869 die Sohle und den rauschenden Bibersbach, um auf engem gewundenem Pfade, die Wände der Ellebogner Spitze zur Rechten, alsbald zur Tiroler Hochalpe wieder emporzusteigen. Vom Biberskopf kam ich herüber, den ich nach siebenstündigem Marsche gewonnen, von der Linkersalpe über die Rappenalpe nach der oberen Bibersalpe, deren Gräben mich gräulich in die Irre geführt, dann über den Grat am Rappenköpfle auf die Südseite des Gebirges, um die Felsrippen des Biberskopfes herum, die, eine abschreckender als die andere, mir entgegenstarrten, bis ich die äusserste, gerade gegen Süden ausstrahlende, fasste und in verzweifeltem Aufklettern das Haupt des Riesen auch glücklich erreichte [6] ; wo ich dann hinausblickte auf den Bodensee und die dunklen Bergzüge des Schwarzwaldes, tief hinein in die schneegefleckten Kare der Lechalpenthäler, von schwarzen Mauerzacken umrandet, auf die funkelnden Gletscherkämme der Oetzthaler und Ortlergruppe, des Unterengadin und der Bernina.
Nach kurzer Rast und Erfrischung an der kleinen Alphütte "Am Berg" südlich des Biberskopfes, war ich dann hinabgestiegen in die Thalschlucht, über welche die Hochalpe und die weisse Pyramide des Hohen Licht mir herüberwinkte; wieder hatten im Wirrsale der Gräben die Eisen meinen Weg an den schlüpfrigen, lettigen [7] Lahnen [8] , an den unsicheren Gras- und Moospolstern der Felsabstürze hin mir bahnen müssen, und nun endlich stand ich am Ufer des thalwärts eilenden Baches, um jenseits die gleiche Höhe, von welcher ich mühsam herabgekommen, wieder zu erobern.

Der Pfad war rasch gefunden; in tausend kleinen Serpentinen, vielfach getheilt und wieder vereinigt, klomm er hinan, bis das letzte Krummholz am spärlich begrünten Boden schwand; auf abhängiger Wiesenterrasse zog er alsdann quer durch, dem Inneren des Thals und seiner Kare zu; die von ihrer Südwestseite sich darstellende, völlig regelmässige und blendend schuttweisse Pyramide des Hohen Licht bot nun einen besonders grossartigen Anblick und nicht minder gewaltig schaute der Biberskopf, den ich vor wenig Stunden erst verlassen, über die Tiefe des Thales zu mir herüber. Um die Felsecke eines niedrigen, vom Verbindungsgrate zwischen Hohen Licht und Ellebognerspitze ausstrahlenden Zweigkammes bog ich, den absteigenden Pfad verfolgend, in's Kar der Hochalpe ein; eine ausgedehnte, sanftgehobene, stark hügelige Weidefläche, im Hintergrunde geschlossen von gelblettigen Steilhängen, in welche scharfgezeichnete Gräben sich einschneiden, welche zu einem fast geradlinig gegen Süden gezogenen Grate emporsteigen. Jenseits dieser Wasserscheide liegen die Felshügel und Firnflecke im innersten Winkel des ausgedehnten Gebietes des Trettachferners, dort nimmt der Schachenbach ("Schochenalpbach") seinen Ursprung, um seine anfangs enge Thalfurche zur Rossgumpenalpe hinunter zu verfolgen; der Uebergang über diesen Grat wäre wohl nur vermittelst Gebrauch der Eisen, nicht ohne Schwierigkeit, ausführbar. Vom westlichen offenen Rande des Kessels der Hochalpe stürzen senkrechte Wände in die unzugängliche Kluft hinab, welche die Gewässer des Bibersbaches zu Thal führt; von Norden setzt das Hohe Licht seinen Fuss herein, in steilfallenden, noch ziemlich reich begrünten Terrassenstufen. Auf einem etwas hervorragenden Hügel inmitten des Thalbodens steht einzeln die grosse Hütte der Tiroler Hochalpe (ca. 6000' 1950m).
 

Die Kreuzung der Bibersbachschlucht von der "Alpe am Berg" herüber hatte mehr als zwei Stunden in Anspruch genommen; es war vier Uhr Nachmittags, als ich an der Hochalpe anlangte. Trotz des anstrengenden Marsches den Tag hindurch hatte ich noch keine rechte Lust, das Werk von heute zu beschliessen, und Angesichts der allmähligen Umwölkung des vorher unvergleichlich klaren Himmels, der nahen Möglichkeit einer Witterungsänderung für den morgenden Tag, schien es mir nicht unvortheilhaft, mit einem letzten Appell an die körperliche Elasticität noch am gleichen Abende das Hohe Licht zu ersteigen und damit meine Geschäfte in diesem Gebirgsabschnitte ein- für allemale zu erledigen.
Gegen diess abenteuerliche Unterfangen legte indess der Himmel selbst rechtzeitigen Protest ein; ich war noch keine halbe Stunde lang an den starkgeneigten, stufigen Grashängen des Bergfusses aufwärts gestiegen, als mit überraschender Geschwindigkeit Veränderungen bedenklichster Art im Luftkreise sich geltend machten. Da und dort ballten die vereinzelten Haufwolken zu langgestreckten, dunklen Schichten sich zusammen, der Dunstschleier des westlichen Himmels, der wenige Minuten zuvor im Sonnenglanze noch wie leichtes Geflocke aussah, trat in den Schatten und zeigte seine wahre Natur als pechschwarze Wolkenwand. Noch beschloss ich abzuwarten, nahm auf einem vorspringenden Felsenbalkone Platz und verfolgte beobachtend die weitere Entwickelung des Gewölkes. Die Würfel waren in der That gefallen. Dichter und schwärzer zog sich's zusammen und breitete seine düstern Schatten über die Hörner der Lechalpen, über die Hochfläche des Thammberges herüber; jetzt hob sich auch die Wolkenmasse im Westen empor und grünlichgraue, zerfetzte Nebelstreifen mischten sich in den tiefdunklen Gewittervorhang. Für heute musste ich allen weiteren Plänen wohl entsagen; schnell war ich wieder in der Tiefe des Alpenbodens und wanderte der Hütte zu, wo mir gastliche Aufnahme zu Theil wurde. Alles lag bereits in tiefem Düster, näher rückte das Grollen des Donners, vom Lechthale herauf erklang Wetterläuten aus dem Kirchlein von Stög ("Steeg"). Vor der Thüre sitzend sah ich die Wettermasse heranziehen, sah sie die Gipfel der Lechalpen in ihre schwarzen Schleier hüllen, aus dem Grabach und Bodenthale hervorbrechen und ihre Schauer in's Lechthal niedersenden.

nächtliches GewitterKaum bemerkbar, ein fahler, gelbröthlicher Schein, fuhren die Blitze hin und wieder; dem matten Aufzucken folgte unmittelbar der Donnerschlag, mit erschütternder Gewalt an den Felswänden sich brechend und aus ihren Klüften hundertfach zurückgeworfen. Und nun steigt's auch schwarz und drohend herauf über den Biberskopf, die Rappenköpfe und das Hohe Licht, qualmt aus dem Schachenbach ("Schochenalpbach") empor und streift die Mauern der Ellebogenerspitze. Einen Augenblick noch staut sich der Wolkenschwall vor der Tiefe, die ihm entgegengähnt; dann rollt's wie Ströme von Blei herunter in die Kare, verschwunden sind die Gipfel im Nebelmeere, das Prasseln des Wolkenbruchs, das Toben der angeschwollenen Bäche und das unausgesetzte Donnerrollen mischen sich zu unentwirrbarem Getöse. In ihre dickwollenen Wettermäntel gehüllt, den festgeschnürten Hut tief in's Gesicht gezogen, eilen die Hirten hinaus in den rasenden Aufruhr der Elemente, das entsetzt, besinnungslos umherrennende Vieh von den gefährlichen Stellen zurückzuhalten. Sie kehren, regentriefend, erst zurück, nachdem der ärgste Gewittersturm sich gelegt, die Wolken fester sich gelagert, und die seltener und ferner ertönenden Donnerschläge verkünden, dass die Spannung der Electricitäten ihren Ausgleich gefunden hat. Endlose Regenfluten stürzen als Nachspiel des Gewitters auf die Berge, von den Bergen in die Bäche und Schluchten nieder; die dichtgezogenen Schleier beschleunigen den Hereinbruch der Nacht.
 

Nebelschwer bracht der folgende Morgen heran; durch's kleine Fenster der Hüttenkammer, in welcher ich ein auf den Alpen ungewohnt gutes Nachtlager gefunden hatte, sah ich über die Schlucht des Bibersbaches weg auf den Biberskopf und in's obere Lechthal. Bleigrau zeigten sich die Felsen, ein düsterer Ton breitete sich über die Wiesen und Wälden der tiefen Gebirgszone. In den nassen Thalgründen zogen weissliche Wolkenschichten hin und her, die unbeliebten "Katzen" schlichen an den Berghängen und in den Karen hinauf. Die Vermuthung, dass binnen Kurzem sämtliche Gipfel verhüllt sein würden, erschien als ziemlich gegründet und war für mich um so unerfreulicher, als ich, auf der Südseite des Gebirges befindlich, gar nicht wusste, wie wieder nach Hause gelangen, es sei denn mittelst des colossalen Umweges über Lechleiten und den Schrofenpass. Die Angabe der Hirten, man komme nahe am Wildmännle über den Grat nach der Rappenalpe hinüber, es sei dieser Pfad in früheren Zeiten von Schwärzern [9] viel gegangen worden, hätte an und für sich ganz befriedigend gelautet, wäre nicht bei der naheliegenden Möglichkeit die Auffindung des richtigen Ueberganges eine ziemlich problematische gewesen. Zurückkehren musste ich nun aber doch, verloren war der heutige Tag unter allen Umständen, ich konnte vor später Nachmittagsstunde keinenfalls in Sonthofen wieder eintreffen. Und da der Nebel, sollte das Geschick mir günstig sein, ebensowohl nach zwei, als erst nach vier oder fünf Stunden anfallen konnte, so war das schliessliche Resultat meiner Selbstberathung allen ungünstigne Auspicien [10] zum Trotz dennoch das Hohe Licht anzusteigen, und abzuwarten, was weiter sich ergebe.
 

Ich nahm daher Abschied von den freundlichen Hirten der Hochalpe und setzte mich um 1/2 5 Uhr Morgens in Marsch. Wie am Nachmittage vorher übersetzte ich den, noch ziemlich angeschwollenen Bach, welcher aus den Wasserrinnen im Hintergrunde des Kar's sich sammelnd zum Bibersbache hinabstürzt, und stieg das grüne Gehänge am Fusse des Hohen Licht Stufe um Stufe hinauf. Die Anstrengung des vorhergegangenen Tages lag mir in den Gliedern und ich kam ziemlich langsam vorwärts. Allerwärts schützen Zäune die Weideplätze gegen die abstürzenden Wände, die von allen Seiten sie umgeben; auch die Grasflächen, die von der Hochalpe weiter thaleinwärts sich erstrecken, sind längs der Biberbachschlucht hin mit Gehegen eingesäumt. Den untersten, steilen Grashängen folgen mässiger geneigte, ziemlich allgemein begrünte Plätze, die einförmig zur Höhe sich empordehnen, und an welchen das Vegetationskleid nur langsam sich verliert und endlich ganz erstirbt. Die breiten Schutthänge der Gipfelpyramide erscheinen nun, wenn sie überhaupt einmal dem Blicke sich zeigen, beträchtlich eingeschrumpft und nur die Erinnerung an das Bild, welches sie aus grösserer Ferne darbieten, lässt die Länge des Weges ermessen, welcher noch zurückzulegen bleibt. Die Passhöhe des Grates, welcher das Hohe Licht mit der Ellebognerspitze verbindet, steht nun zur Rechten in ziemlich gleichem Niveau; der erstere Gipfel, welcher auch in dieser Richtung, gegen Süden, mit breiten Gerölllehnen abdacht, fusst auf ihm mit einem ca. 50' (ca.15m) hohen Steilabsturze, der weder zu ersteigen, noch zu umgehen sein dürfte; auch von der Gegenseite, von Osten her, habe ich mir diese Stelle betrachtet und bin zu dem gleichen Resulate gelangt.

litografischesVertikalprofil vom Hohen Licht nach Original-Skizzen von Hermann von Barth


Ziemlich an der Höhengrenze der Vegetation, wo das Gras nur mehr in einzelnen Bändern und Päcken am Felsgehänge haftet, breitet eine hügelige Terrassenstufe sich hin. Zwischen den mächtigen Blöcken und Trümmern, die ihren Boden überlagern, ist eine kleine Schäferhütte erbaut, niedrig, von rauhem, grauen Aussehen, wie der Fels, der sie umgibt, kaum erkennbar dem ungeübten Auge. Bald darauf ist die Kante gewonnen, welche vom Scheitel des Hohen Licht herabziehend die Gratscheide zwischen der Hochalpe und dem Kessel des Hochalpferner [11] bildet. Gedrückte Schrofenrücken, von Geröll umlagert, bezeichnen ihre Scheitellinie; nach der Höhe zu verliert sie sich in die Schuttfelder der Gipfelpyramide. Als ich die Terrasse der Schäferhütte und den Grat erreichte, war die erste Stunde des Anstieges reichlich bereits verflossen. In das einförmige, nasse Weissgrau des ganzen Horizontes mischten sich bereits wieder die scharfgezeichneten, schwarzen Gestalten heranziehender Regenwolken, die Nebelschichten in den Thälern begannen sich zu heben, da und dort hüllte ein Theil der Rundsicht sich in den grauen Schleier herabstürzender Regengüsse. Der Biberskopf, im Zackenkreise seiner Trabanten, starrte noch frei, eine tiefdunkle Riesensäule, in den trüben Morgenhimmel, während schon die schweren Gewölke um seinen Fuss sich herumlagerten; höher und höher strichen sie durch die Schluchten hinauf, in denen ich gestern umhergeklettert war, wie eine Insel schwamm endlich der gewaltige Felsenbau im grauen Gewoge dahin; da zog ihm noch die oberste Wolkenschicht eine Kappe über den Kopf und im Dunst löste sich, verschwand die starre Gestalt. Nicht lange währte es nun, so waren die Wolken auch bei mir; die tiefe Bibersbachschlucht, die am gestrigen Nachmittage zwei volle Stunden mir gekostet, war ihnen leider kein so zeitraubendes Hinderniss. Bald wies das Gestein vor meinen Füssen die unheilverkündenden grauen Flecken, und ein tüchtiger Platzregen, mit Graupeln untermischt, prasselte auf mich nieder. Ich hatte eben die Gratkante erreicht; drüben war alles Qualm und Rauch; vom weiten Gebirgskessel, der dort vor mir liegen musste, nicht eine Spur zu erblicken. Die schräg gegen Norden aufgerichteten Felsschichten bildeten auf de Kante stellenweise schützende Dächer, und unter solche eine Höhlung verkroch ich mich, Besserung des Wetters abwartend. Der ärgste Guss ging denn auch bald vorüber, und ein längerer Aufenthalt erschien, da eine radikale Wendung der Witterungsverhältnisse für diesen Tag und wohl auch für etliche nachfolgende kaum zu hoffen war, eben so unnütz als die bei Nachlassen der starken Bewegung höchst empfindliche Kälte einen solche unangenehm gemacht haben würde. Ich nahm daher nach kaum einer Viertelstunde den Anstieg wieder auf.

Die Gratkante bot noch eine Strecke weit gestuften Fels und damit einen bequem gangbaren Boden; allmählig aber verschwanden ihre festen Schrofen im Schuttmeere der Gipfelflanke und das leidige Steigen im Gerölle mit obligatem Zurückgleiten bei jedem Schritte nahm seinen Anfang. Ist solch' eine Wanderung eintönig und unerfreulich genug bei klarem, hellem Himmel, so wird sie bei Nebelverhüllung zu einem der widerlichsten, dem bittersten Missmuth Nahrung gebenden Momente einer Bergtour. Im trüben Schleier, der eine nahe Grenze der Sichtbarkeit nach Aufwärts sowohl wie nach Abwärts zieht, bei unabänderlich gleich bleibenden Terrainverhältnissen, und dem steten Zurückweichen des Bodens unter dem Fusstritte, kommt man sich nicht anders vor, als der Esel, welcher in der Tretmühle arbeitet; man vermeint bei aller Anstrengung doch immer auf dem gleichen Flecke zu bleiben. Und nicht in geringem Grade vermehrte es meinen Aerger, dass solches Wetter bei einer Partie auf den wichtigsten Knotenpunkt zwischen dem centralen und dem westlichen Abschnitte des Algäuer Hauptkammes mich treffen musste. Gelegentlich brach nun doch der Nebel auf und zeigte mir gegenüber, im Süden, schwarze, zerrissene Wände; es war die Nordflanke der Ellebogner Spitze oder ihres nördlichen Nebengipfels und der von letzterem ausstrahlenden Parallelkette, und wurde einmal einer der gerundeten Gipfelscheitel frei, so mochte ich daran die Höhe ermessen, die zu bewältigen mir noch übrig blieb. Ich erinnerte mich an mein Projekt des Nachmittages vorher und musste mir sagen, dass das Hereinbrechen des Gewitters doch auch sein Gutes gehabt habe [12] . Nordwärts blickte ich durch Lichtungen des Wolkenschleiers hinunter in ein weites, kahles, schneegeflecktes Kar, von zahnigen Graten umschlossen, die ein tiefes, enges Durchbruchsthor zwischen sich lassen; in dieser Lücke steht als Wächter das Wild-Männle, nun ein ganz ansehnlicher Felsenzacken, vergleicht man damit die Miniatur-Gestalt, welche in's Thal von Einödsbach herunterschaut. Tiefer noch gegen Osten buchtet der Kessel in's Innerste des Hochgebirges sich ein; der vortretende Gipfelkörper des Hohen Lichts verwehrte mir noch den Einblick in seinen letzten Hintergrund.
 

Die zweite Stunde seit Aufbruch vom Nachtquartiere war verflossen, aber von einer Erreichung des Zieles, die ich in dieser Zeit zu bewerkstelligen gedacht hatte, war noch nicht die Rede; noch nicht einmal eine Verschmälerung der Bergflanke, auf die Nähe eines Culminationspunktes hindeutend, war zu bemerken. Nur zur Linken traten die Abstürze des Gipfels in eine nebelverhüllte Tiefe allmählig bestimmt hervor und durch den dicken Wolkenvorhang im Süden dunkelte gelegentlich wieder die Ellebogener Spitze, einen merkbaren Gewinn an Höhe meinerseits nachweisend. Aus dem Schutte des Berggehänges traten hier und dort Bänke festen Gesteines hervor, die natürlich eifrigst aufgesucht und benutzt wurden, um ausnahmsweise wieder einmal ein paar sichere, nicht gleitende Tritte zu thun. Jetzt begann auch die Gipfelflanke langsam sich zu runden; die Zickzacklinien, die ich im Anstiege beschrieb, brachten mich in rascherem Wechsel von der westlichen auf die südliche Seite der Pyramide und umgekehrt. Grobstückiges Getrümmer deckte den Boden; einzelne Schrofenrippen traten aus der verwitterten Gesteinsdecke hervor; näher und schärfer abgerissen erschien zur Linken die Steilwand. Dicker Wolkendampf lagerte und kochte umher im Osten; er deutete auf einen tiefen Bergkessel in jener Gegend, ich mochte nun wohl über der Sattelhöhe des querlaufenden Kammes, über den innersten Becken des Schachenthales ("Schochenalptal") mich befinden. Da endlich zeichnet im Nebeldunste eine feine, gerade Linie sich ab; einige Schritte weiter, und meine Hand fasst die trigonometrische Signalstange; das Ziel ist erreicht, nahezu 2 1/2 Stunden hat die Ersteigung in Anspruch genommen (Höhe ca. 8000' 2600m).

Ich legte den Bergsack nieder und streckte mich auf den nasskalten Felsboden hin; zu sehen war Nichts, anfangs sogar nicht das Allernächste; ich wartete auf gelegentliche Lichtungen und meditirte einstweilen über die Ursache, welche dieser reingeformten Pyramide ihr mehrzackiges Aussehen verleihen möge, wenn man vom Trettachferner aus sie erblickt. Nicht lange hatte ich zu warten, da kam wieder etwas Bewegung in's Wolkenmeer, seine Massen schoben sich gegen einander, da und dort gab's einen Riss; vor mir im Osten entwickelte sich der Grat – ein zackiges Geschröf von meinem Gipfel absinkend, – dann wieder ein Zacken, nahezu gleich hoch mit mir – und noch weiter ein dritter, recht verdächtig aussehender, abgehackter Klotz – der ist ja wahrhaftig höher als mein Standpunkt! – Im Nun war ich wieder auf den Beinen, hatte den Bergstock zur Hand und kletterte auf dem Grate weiter, dem neuerschienen Gipfel zu, der alsbald im Nebel wieder verschwand. Die Wolkenverhüllung veranlasst bezüglich der Entfernungen die allergewaltigsten Täuschungen, jedoch von solcher Art, dass sie dem Bergwanderer nur zu erfreulich sind, – hat er durch sie sich nicht bewegen lassen, sein Unternehmen überhaupt aufzugeben. Ich dachte eine halbstündige, vielleicht noch längere Gratstrecke vor mir zu haben und war in 10 Minuten am Ziele. Allerdings eine ziemlich übliche Kletterei; der Zwischenzacken bricht auf die Scharte, die ihn vom rivalisirenden Gipfel trennt, fast senkrecht nieder, der ganze Grat ist äusserst enge, schroff und schartig. Er hat einige Aehnlichkeit mit jenem, welcher die beiden Zugspitzgipfel mit einander verbindet, doch stürzt seine Nordseite nicht ganz so fürchterlich steil ab, wie dort; man geht sogar eine Strecke von wenigen Schritten unter den überhängenden Wandstufen des Grates auf nördlicher Seite hin. Der östliche Gipfel wird in geradem Anstiege von Westen her gewonnen; ebenfalls sehr steil, des abbröckelnden Felsens wegen Vorsicht heischend, aber doch etwas leichter als die Gratstrecke zwischen ihm und dem westlichen. Da sass ich nun auf dem trümmerbedeckten, engen Scheitel meiner Klippe, sah nach der Signalstange zurück und bemerkte nicht ohne Ueberraschung, dass sie mich nun entschieden überragte; ich war wieder einmal in die bekannte Augentäuschung verfallen, den Nachbarpunkt auf einem Grate stets für höher zu halten, als den eigenen; eine Täuschung, welche nur bei Besuch beider Punkte, und wenn ein solcher nicht unmittelbarer Folge auszuführen, gar nicht sich hebt. Das Führen eines guten Visir-Klinometers [13] hat mich in den folgenden Jahren meiner Bergreisen vor manchen ähnlichen Missgriffen bewahrt.
 

Blick vom Wilden Mann zum Bockkarkopf Indess ärgerte mein Fehlgang mich durchaus nicht; es sass sich gar gemüthlich auf dem engen Plätzchen, steil aufgemauert von allen Seiten und oft gleich einer Felsenscholle in der Wolkenfluth dahintreibend; zudem hatte ich auf diesem Punkte einen bedeutend erweiterten Ueberblick der Kammstrecke gewonnen, welche das Hohe Licht mit dem Hauptgrate in Verbindung setzt.Sie biegt im Halboval sich herum und scheint aus einer Reihe sehr schroffer und schmaler Felsblätter zu bestehen; ausser dem schartigen Rücken des Wilden Mann, an welchem sie mit dem Hauptzuge der Algäuer Alpen sich vereinigt, treten in ihr noch zwei bedeutende Gipfelerhebungen auf; sie dürften den ersteren bereits an Höhe übertreffen und werden ihrerseits wieder vom Hohen Licht bedeutend überrragt. Die Höhe des Wilden Mann wird von der bayerisch-tirolischen Grenzbeschreibungskarte zu 7902' 2567m angegeben; es ist ein äusserst scharfer und zernagter Mauergrat, so schneidig, dass noch unterhalb seines Scheitels Löcher in der Felsmasse sich zeigen, durch welche der lichte Himmel oder das Grün der Illerebene hindurchblickt. Seine Ersteigung steht etwas sehr in Frage; sie hätte übrigens auch wenig Werth [14] . Im Vergleiche mit der angegebenen Höhe darf jene des Hohen Licht reichlich zu 8000' 2600m angeschlagen werden; obwohl dieser Gipfel ein Vermessungssignal trägt, ist es mir doch nicht gelungen, eine bestimmte Höhenangabe für ihn, oder auch nur eine solche aufzufinden, die sich wahrscheinlicher Weise auf ihn beziehen liesse. Dunkle, zerklüftete Mauern umspannen den Hintergrund des Kessels, in welchem steil geneigt, von fast runder Gestalt, das Eisfeld des Hochalpferners ruht. Ich sah dasselbe zum grössten Theile schneefrei, von tiefgrauer Farbe, mit weissen Längsstreifen gekennzeichnet, auch glaube ich einige, wiewohl unbedeutende Risse in demselben wahrgenommen zu haben.
 

Im Norden und Westen besserte sich allmählich der Ausblick, zuweilen trat sogar der mächtige Biberskopf aus dem trüben Gewölke wieder hervor, häufiger zeigten sich die Rappenköpfe, wenig charakteristische Feldpyramiden, tief unter meinem Standpunkte gelegen; durch die Scharte des Wild-Männle blickte ein Stück grünes Illerthal und das vordere Walserthalgebirge herein. Ueber den gezahnten Grat des Wilden Mann hinweg sah ich in lichten Momenten nach Sonthofen hinaus und überzeugte mich dadurch vollends, dass die hohe Berggestalt, welche von dort gesehen, die Mädelegabel-Gruppe zu schliessen scheint, mit zackigem Gipfelgrat und regelmässig abdachender Westlinie keine andere sei, als das hinter dem Hauptkamme stehende Hohe Licht.
Schlimmer war es mit den Aussichten im Süden bestellt, wo selten nur die schwärzlichen Mauern der nahe Parallelkette durch die Wolken schienen, noch seltener ihre Gipfel enthüllten; sie sind von dieser Seite kaum zugänglich, auch gegen Süden fallen sie ziemlich steil ab, mit Ausnahme der Ellebognerspitze, des höchsten unter ihnen, welche vom Lechthale aus leicht zugänglich ist und einen sehr lohnenden Ueberblick der Südseite des Algäuer Hauptkammes gewährt. Doch tragen auch ihre Nachbargipfel Signale. Im Osten vollends schoben die Wolkenmassen in Schachenthale ("Schochenalptal") sich zusammen, dass es qualmte und brodelte wie in einem riesigen Hexenkessel; weder von der Mädelegabel, noch von den Krotenköpfen und dem von ihnen südwärts ausstrahlenden Karrerjoch-Kamme bekam ich das Geringste zu sehen. Tief unten in den Schafweiden des Schachenthales ("Schochenalptal") johlte ein Hirt, und aus den Wolken herab antwortete ihm eine Stimme in schelmischen Weisen. Was er sich wohl dabei gedacht haben mag?
 

Blick vom Hohen Licht nach Westen Ich kletterte endlich den schneidigen Grat wieder zurück nach dem Signale, welches als der Hauptgipfel des Hohen Licht sich herausgestellt hatte; baute dort in üblicher Weise einen schützenden Verschlag für die Kaffeemaschine und kochte ein Frühstück, dessen Wärme bei dem nassen und kalten Wetter einen äusserst wohlthätigen Einfluss übte; hier und da erhaschte ich noch einen günstigen Moment der Aussicht. Als auch dieses Geschäft beendigt, das Blechgeschirr mit Schnee geputzt und wieder im Bergsack verpackt war, plante ich den Rückweg – eigentlich weniger Rückweg als Weiterweg, da ich diesem Abend oder aber äussersten Falles in aller Frühe des nächsten Tages Sonthofen wieder erreichen musste.

Es handelte sich daher um die Auffindung des Gebirgsüberganges westlich vom Wildmännle ("Wilder Mann") , und in erster Linie um den Abstieg vom Hohen Licht in's Kar an seinem nördlichen Fusse ("Kleine Steinscharte"). Nun wäre zu diesem Behufe [15] allerdings das Einfachste gewesen, an der Westseite des Gipfels nach der Terrasse der Schäferhütte über der Hochalpe zurück, und auf dem gebahnten Steige um das Hohe Licht herum in's Kar wieder aufzusteigen, – ein langer und langweiliger Weg. Dagegen lag der Kessel des Hochalpferners in lockender Nähe vor mir, der Körper meines Gipfels zeigte in dieser Richtung eine langgstreckte Schuttabdachung, etwas tiefer eine zweite Schuttterrasse, und diese schien gar nicht so weit mehr von dem Hügelboden des Kar's abzustehen. Kurz entschlossen begann ich dort hinunterzusteigen. Die Gerölllehnen gaben anfänglich gut gangbaren Boden, weiterhin wurden sie steiler und plattiger, abbrechende Felsbänke traten hier und dort aus der verwitterten Ueberdeckung hervor; zuletzt stand ich vor der Steilstufe, die von der tiefer gelegenen Terrasse mich trennte. Sie war zu schroff und haltlos, um hinabzuklettern; ein ziemlich weiter Quergang nach links brachte mich an mässiger geneigte Absätze, an zerspaltene Partieen der trennenden Mauergürtel, und endlich auf die unteren Schuttfelder.

Ihrer natürlichen Senkung folgend wandte ich mich nun nach der rechten Seite zurück; zur Höhe wieder aufblickend gewahrte ich erst jetzt, welch' bedeutender Wandabsturz zwischen jenen oberen Geröllhängen und der unteren Terrasse gelegen hatte und von mir, als ich vom Gipfel aus das ganze Terrain übersah, als geringfügige Abstufung taxirt worden war. In noch bedeutenderem Masse erfuhr ich solche Täuschung bezüglich der tieferen Partieen, mit welchen das Gipfelmassiv im Kare des Hochalpferners fusst. An den Rand der Geröllterrasse vortretend, soweit die rasch zunehmende Steile des Bodens es zulassen wollte, sah ich mich über Wänden von mehreren hundert Fussen Höhe, an denen kein Gedanke eines Hinabkommends. Indess die Sohle des Kars hob sich ebenfalls in beträchtlichem Neigungswinkel und, obwohl in gerader Linie des Abstiegs noch mehrfach thurmtief unter mir, lag sie weiter zur Rechten bereits nahezu in meinem Niveau. Es handelte sich um die Ausmittelung eines Querganges nach jener Seite. Die Schuttterrasse verlief in einzelne Bänder und diese in schmale Galerieen und Gesimse an der Wand, welche von tiefen, senkrechten Klüften durchrissen, dem Durchdringen sehr ernstliche Hindernisse bereiten zu wollen schien. Indess der sichere Boden, breite, theilweise schneebedeckte Schuttkegel vom Fusse der Gebirgsmauern herabgegossen, lag jenseits so nahe vor mir, dass ich unbedenklich in den gewagten Strauss[16] mich einliess.

Stufe um Stufe gings vorsichtig hinab, und wo immer möglich, der Quere nach wieder gegen Rechts; schmale Absätze des Gesteins, ausgehöhlte Grübchen und vorspringende Zacken in den Wasserrunsen gaben erwünschte Anhaltspunkte, doch hätte mein Vertrauen auf die Festigkeit des Algäuer Dolomitgesteins – (an der Wand und der Bergflanke, nicht auf dem Grat) – beinahe eine schlimme Enttäuschung erfahren; ein solcher Zacken, an welchem festgeklammert ich mich bis zur völligen Streckung des Arms hinunterlassen musste, um einen tieferen Tritt zu gewinnen, brach eben in dem Momente ab, als mein Fuss Boden fasste; eine Zehntelsekunde früher, und der Sturz wäre unvermeidlich gewesen. Nachdem noch einige Rippen und Rillen quer durchstiegen waren, sah ich mich vor der Hauptkluft, durch welche ein ziemlich starkes Gewässer zum Kar sich hinabgoss; ein enger und unsicherer Durchgang an den glattgewaschenen Platten brachte mich, etwas getauft von der Cascade, nach der entgegengesetzten Seite. Hier fanden sich wieder einige gut gangbare Querbänder durch das Geschröf, wenige Minuten später hatte ich die Trümmerhänge am Rande des Kars gewonnen, nahm sofort das nächste Schneefeld an und fuhr im Saus auf die hügelige Sohle des Beckens hinab. Nun sah ich auf die Wände des Hohen Licht zurück. Hätte ich vom Gipfel aus diesen Anblick gehabt, ich wäre wohl kaum so zuversichtlich da herabgestiegen; indess gereichte mir das gelungene Unternehmen zu einiger Befriedigung, nicht eben seiner Abenteuerlichkeit wegen, sondern infolge der Wahrnehmung, dass ich mit unbegreiflich richtigem Instinkte wieder die einzig mögliche Linie der Gangbarkeit in diesem steilen Gefelse herausgespürt hatte, mit allen ihren, von der geraden Richtung so weit sich entfernenden Abschweifungen.
 

Das Wilde Männle (Allgäuer Alpen) ca. 1950 Bequem und schnell ging's nun durch das schwachgeneigte Kar hinauf, seinem culminirenden Rande am Wildmännle zu; der Boden besteht aus einer Unzahl regelllos zerstreuter, und zusammengehäufter Felshügelchen, zwischen welchen zahlreiche Wässerchen hervorquellen, nach kurzem, unterirdischen Laufe vom nahe Rande des Hochalpferners herunter; wo die Steindämme ihnen einen augenblicklichen Durchgang versagen, stauen sie wohl auch zu Miniaturseen sich an. Der Rundung des Kessels folgend bog ich von der Nordrichtung allmählig gegen Nordwesten und Westen um; von einem etwas höheren, mit kleinen Rasenpäckchen besetzten Mauerwalle stieg ich in die höchstgelegene Schuttmulde hinab, der Hochalpferner blieb mir im Rücken, ich befand mich auf geringe Distanz – sie mochte 300-400 Schritte betragen – dem Wildmännle gegenüber. Fürwahr, ein seltsames Feldgebilde! Das Zäckchen, welches, vom Illerthale gesehen, in der Helle der Gebirgsscharte steht und dort wohl mit einem Wildschützen, die Büchse im Arm, verglichen wird, ist nun zur Grösse einer ansehnlichen Dorfkirche emporgewachsen; es fusst mauersteil unmittelbar auf dem Grat und auf den nächst daran stossenden Schuttfeldern des Hochalpkars. Sein Fundament, ein grosser viereckiger Felsklotz, erscheint ziemlich solid gebaut, der Oberkörper und Kopf aber auf der östlichen Ecke desselben ruht auf bedenklich schwacher Grundlage; es ist ein länglich keulenförmiges Gebilde, dessen Höhe zu 50-60' (ca.15 - 18 m) angeschlagen werden darf; seine Basis ist schwächer als die Mitte seines Körpers und wohl mag der Zeitpunkt nicht ferne mehr sein, da der letzte Haft sich löst und mit Donnergetöse die Felsenbombe hinunterstürzt zum Bacher Loch und die uralte Firndecke der Schneeflucht krachend durchschlägt [17] . Es soll dieses künftige Ereigniss seinen Vorläufer bereits gehabt haben. Alte Leute der Gegend wollen sich erinnern, dass der Felsbau in der Scharte vor Zeiten auf beiden Ecken solche Thürmchen getragen, deren eines seinem Schicksale bereits erlegen sei. Die letzte Mulde des Kars im Bogen ausgehend, kam ich, wie bereits erwähnt, auf wenige hundert Schritte Entfernung an diesem seltsamen Baue vorüber; gerne wäre ich nach seinem Fusse emporgestiegen, um von der abbrechenden Gratkante einen Blick in die schaurig dunkle Tiefe des Bacher Lochs zu thun, doch hätte ich dort wohl nichts zu sehen bekommen als Nebelqualm, und eine eben eintretende, sogar von einigen Sonnenstrahlen begleitete Lichtung des Gewölkes mahnte im Gegentheile, den günstigen Moment nicht zu versäumen zur Aufsuchung des Gratüberganges, der westlich vom Wildmännle sich finden musste.
 

Blick durchs Bacherloch zum Wilde Männle um ca. 1950 Ueber schwach berasten Felsboden stieg ich längs des Südostfusses der Rothgundspitze (7627' 2478m) in schräger Richtung hinan; eine tiefe Bucht ("Große Steinscharte") that zwischen ihrem Körper und dem westlich gegenüber stehenden der Hochgundspitze (7563' 2457m) sich auf, ihr Ende und Abschluss war noch nicht mit Sicherheit zu erkennen, zudem die Nebel dichter und dunkler über die Gipfel sich herabsenkten. Nach kurzem Anstiege trat ich in eine breite, muldenförmig ausgetiefte Gasse ein, Schuttlehnen begrenzen ihre Seiten und stossen an den Fuss schwärzlicher Steilwände; ich musste mich bereits zwischen den Gipfeln des Hauptgrates befinden und erwartete jeden Augenblick an die Wand oder doch an ein Steilgehänge zu treffen, das zu ihrem Verbindungskamme sich erhebe. Aber weiter und geradliniger öffnete sich der hohle Weg; ein Steiglein schleicht an den Gerölllehnen zur Rechten dahin und führt mich sanft, kaum merkbar, aufwärts; dann plötzlich tritt eine ebenso mässige Senkung ein, der Felsboden zu meinen Füssen überzieht sich allmählig wieder mit Gras, hügelige, grüne Terrassen breiten vor mir sich aus; rückgewendet sehe ich die düstern, zerklüfteten Mauern im Nebelschleier sich verlieren. Ich konnte momentan mich kaum darauf besinnen, was diese Erscheinungen zu bedeuten haben mochten; aber das immer entschiedener sinkende, immer breiter und grüner sich ausdehnende Terrain, endlich das Erscheinen der wohlbekannten, schrägen Grasplanken des Linkerskopfes [18] liessen bald keinen Zweifel mehr, dass ich das Gebiet der Rappenalpe betreten, und somit ebenen Weges den Algäuer Hauptkamm überschritten hatte. Ein Name für diesen merkwürdigen Gebirgsübergang ("Große Steinscharte"), dessen genaue Ausprägung ich auch in Waltenbergers trefflicher "Orographie der Algäuer Alpen" (Augsburg 1872, Verlag von Lampart & Comp) vermisse, ist mir nicht bekannt geworden; die bayerisch-tirolische Grenzbeschreibungskarte gibt eine "Rothscharte 7136' 2318m" zwischen den beiden Rappenköpfen an; diese ist jedoch jedenfalls nur mit einiger Schwierigkeit übersteigbar. Ich schätze die Höhe dieses Passes jener der Scharte des Wildmännle ungefähr gleich, sohin auf etwa 7200' 2340m.
 

So war ich denn, ungefähr 2 Stunden nach Verlassen des Hohen Licht, in's Revier der Rappenalpe und damit in's eigentliche Algäu wieder übergetreten; von der nächsten, vorspringenden Terrassenecke, die ich erreichte, schimmerte mir auch schon der blaue Rappensee (6495' 2100m), in freundlich grünem Wiesenrahmen gefasst, entgegen. Die blauen Himmelsaugen dieser kleinen Hochseen, deren man im Algäu fast auf jedem Gipfel einen oder mehrere erblickt und welche den Aussichtsbildern und Gebirgswanderungen einen so unbeschreibbaren Reiz verleihen, büssen durch trübe Witterung, durch schwer herniederhängende Wolken Nichts von ihrem azurnen Glanze ein, ja sie scheinen im Gegentheile an Farbenschmelz zu gewinnen, je düsterer der Horizont in ihren Tiefen hineinschaut. Und vollends der Austritt aus dem Wolkenmeere, der auch das regenverschleierte grüne Thal in eigenthümlicher Helle und Frische erscheinen lässt, verleiht diesen stillen Wasserspiegeln einen Reichthum an Farbe und Schimmer, welcher in ihrem eigenen Schoose die Quelle der Lichtstrahlen vermuthen lassen möchte.
 

Auf dem begrasten Ufer des Sees lagerten die Hirten der Rappenalpe, um sie herum das weidende Vieh. In wenig Minuten war ich bei ihnen und erkannte in den schmutzig braunen, gebückten Gestalten mit dem lauernden Blicke, ächter Tiroler Typus, augenblicklich jene, die mir Tags zuvor am Wege von der Linkersalpe herüber begegnet waren, auf deren Anweisung ich die Wegspur, auf der ich mich befand, weiter verfolgt und mich in den Gräben zwischen der Rappen- und Bibersalpe gefährlich verstiegen hatte; der richtige Weg kreuzt das Gehänge und seine Schluchten mehrere hundert Fuss tiefer. Als ich ihnen vorstellte, wie arg ich auf ihre ungenauen Angaben hin in die Irre gegangen, warfen sie sich schadenfroh lächelnde Blicke zu und erwiderten: "Hättet Ihr 'nen Wiise (Wegweiser) genommen!" – Biederes Bergvolk. –
 

Es war noch ziemlich früh am Tage, kaum 10 Uhr Vormittags. Nicht recht wissend, was anfangen, ging ich an's Rappenköpfle hinüber, Edelweiss zu suchen. Dieser scharf zugespitzte, ostwärts fast senkrecht niederstürzende, an seiner Westflanke mit steiler Graslahne bekleidete Gipfel gehört einem kurzen Seitenkamme an, der vom westlichen Rappenkopfe abzweigt und zwischen sich und dem nach dem Biberskopfe sich fortsetzenden Hauptgrate die wildesten Felsschluchten einschliesst, welche in tieferem Verlaufe die Gräben bilden, die das Gebiet der Rappen- von der Bibersalpe trennen. Eine lange und steile Grasflanke stieg ich vom Westufer des Rappensees hinauf nach dem Sattel, auf welchem die östliche Wand des Rappenköpfle wurzelt; auf den Grat tretend, sah ich vom Fusse weg die Mauer niederbrechen in nächtliche Tiefe; scharze Wolken kochten in diesem Kessel herum und wo sie aufrissen, traf das Auge in noch schwärzere Felsenklüfte, als ging's von dort geradenwegs in den Abgrund der Hölle.
Ich schnallte die Eisen an, und stieg in die Wände des Rappenköpfle hinauf, so weit ihre Steile irgend es zuliess; fand auch einige hübsche Sterne, das meiste Edelweiss war aber bereits verblüht, und zudem erfuhr ich später, dass der weit reichere Fundort der geschätzten Blume auf der grünen Westseite des Rappenköpfle sich befinde. Die Meinung, dass Edelweiss nur wachse und gefunden werden könne, wo kahler Fels keinem Gräschen mehr Raum und Nahrung biete, gehört zu den vielen unbegründeten Vorurtheilen bezüglich der Gebirge. Während ich, auf den handbreiten Graspäcken fussend, an den Mauern herumkletterte und nach den weissen Blümchen haschte, zog das Wettergewölk sich dichter wieder um die Gipfel, fernes Rollen mischte sich in's Rauschen des Regens und der Bergströme und rasch rückte es näher. Nacht wurde es über und unter mir; in Bächen stürzte die Wolkenflut herab und plätscherte in schmutzigen Cascaden die Wände herunter; von Sekunde zu Sekunde leuchtete eine unbestimmte Helle durch die Finsterniss und Knall und Schlag mit ihr zugleich machte Luft und Berg erzittern.
 

Es war sehr gerathen, oder eigentlich etwas zu spät, den Rückzug anzutreten; langsamer als hinauf, ging's das steile, schlüpfrige Gehänge hinunter zum Rappensee, und längs seines hochgeschwollenen Ausflusses bergab zur obersten Hütte der Rappenalpe (5451' 1771m). Rasch, wie es gekommen, hatte das Vormittagsgewitter sich verzogen; die Sonne brach wieder durch die Wolken und sandte ihre grellen Strahlen in die Thäler, die alsbald mit neuen, emporgesendeten Dunstmassen darauf antworteten. Eine kurze Weile jedoch war die jenseits des Rappenalpenthales mir gegenüberstehende Gebirgskette wolkenfrei und prächtig zeichneten die starren Zacken der "Walser Kerle", Geishorn, Liechlkopf, Angererkopf, Kempterköpfle, die Schafalpenköpfe endlich vom dunkeln Horizonte sich ab. Ich verfolgte mit dem Blicke wieder die Schlangenlinie, die ich vor Monatsfrist durch ihre öden Schuttkare beschrieben (eine Schilderung dieser Tour siehe Alpenfreund, Bd. VII, Heft 1) und grüsste die felsenkahlen Gipfel, deren Häupter ich betreten hatte; bedenklich aber betrachtete ich mir den nördlichsten, höchsten der Schafalpenköpfe, der schon einmal mich zurückgewiesen hatte, und nun einem aufgereckten Daumen gleich auf mich herüberschaute. Das könnte auch so eine Trettachspitze werden!
Den Weg, der von der Rappenalpe quer am Steilhange hin und, häufig durch Zäune gegen den nahen Wandabsturz geschützt, in nördlicher Richtung hinabzieht, verfolgte ich bis in die Nähe der tiefen Schlucht, die zwischen Rappen- und Linkersalpe in die Gebirgsflanke einschneidet. Letztere wieder zu durchzusteigen, wie im Morgengrauen des vorhergehenden Tages, hatte ich keine Lust, verfolgte daher die nächst sich darbietende Wegspur direct zu Thal. Sie führte mich zur unteren Hütte der Rappenalpe und verlor sich dann im Walde. Eine Strecke weit ging ich pfadlos, instinktiv links gehalten, bis ich wieder in die Nähe der mir bereits mehrfach unvortheilhaft bekannt gewordenen Schlucht zwischen der Bibers- und Rappenalpe traf; hier fand ich aber glücklich den Steig wieder auf, der, steil hinabgeschlängelt, mich auf die sichere Thalsohle brachte, 1 1/2 Stunden nachdem ich den Rappensee verlassen.
 

Das Rappenalpenthal ist eines der einförmigsten, reizlosesten Thäler des Algäu, wie der nördlichen Kalkalpen überhaupt. Abwechslungslos zieht seine schwachgekrümmte, mässig breite Sohle sich dahin, unbehindert in seinem Laufe murmelt der Bach durch die Alpwiesen. Wald und Buschhänge, von grauen Wänden durchbrochen, begleiten beiderseits das Thal; das steile Gefäll der unteren Bergstufen verhindert fast jeden Anblick der Felsenzone und ihrer Gipfel. Im Rücken des thalaus Wandernden erscheint die gerade Kammlinie des Schrofenpasses und Haldenwangrückens, an ihren grünen, von einer starken Mauerstufe gegürteten Flanken schlingt sich das helle Wegband des Schrofenpasssteiges hinan. Im Norden scheint das Thal abgeschlossen durch den niedrigen, bewaldeten Querriegel, welcher vom Rappenalpenbache, der unmittelbar vorher den Einödsbach aufgenommen hat und fortan Stillach heisst, durchbrochen wird. Die dunkel aufgähnende Felsenspalte, mit welcher die Schlucht zwischen Rappen- und Linkersalpe in's Rappenalpenthal mündert und einen kräftigen Wassersturz auf dasselbe herabsendet, brachte die einzige Abwechslung in die Scenerie der einstündigen Thalwanderung; als endlich der Weg zur Buchenrainalpe sich emporhob, verliess ich ihn, um im jenseitigen Einödsbach bei Baptist Schraudolph wieder einzukehren. Der Bach wurde überschritten, ein Steiglein führte mich die Uferhänge entlang zu einer schmalen, gestreckten Wiesenterrasse, und vom Ende derselben durch Wald hinab an den Einödsbach. Einzelne Balken, von Block zu Block über das schäumende Wasser gelegt, das tobend in seine Felsenklamm einschiesst, bilden den Steg; eine enge Pfadspur schlängelt jenseits an der Steilen Grasböschung sich empor, geradehin zu Schraudolph's Hause. Mit grossem Interesse vernahm mein Führer auf die Trettachspitze von der Ersteigung des Biberskopf, der ihm noch fremd war, und den er, wie ich, für viel leichter und allgemeiner zugänglich gehalten hatte, als er sich in der That erwies.
 

Nach einiger Rast und Erfrischung trat ich den letzten Marsch nach Oberstdorf an; entsetzlich lang wurde mir die schon so oft durchwanderte Thalstrecke der Birgsau, zumal diesen Abend, bei tiefer Wolkenverhüllung der Berge und unaufhörlich herabgiessendem Regen. Es begann zu dunkeln, als ich am Ziele anlangte und in der "Sonne" Quartier bezog, um nächsten Morgens in aller Frühe den Omnibus nach Sonthofen zu benützen. Im Speisesalon, der für die Sommergäste eingerichtet und Leute in meinem Aufzuge nicht innerhalb seiner Wände zu sehen gewohnt ist, befand sich eine, ihrem Accent nach unzweifelhaft ausländische Familie, die halb verwundert, halb ärgerlich zusah, wie der durchnässte, schmutzige, abgerissene Kerl den Bergstock in die Ecke lehnte, den Rucksack zu Boden warf, dass die Eisen rasselten, den regenschweren Hut darauf, den ein paar Ranken gelben und blauen Eisenhuts von der Rappenalpe zierten und sans façon [19] an der Tafel Platz nahm.
Notizbuch und Karten, die alsdann zum Vorschein kamen und als Zeitvertreib dienten bis zum Erscheinen des ersehnten Abendessens, mochten indess doch einiges günstigere Licht auf die Natur des Ankömmlings werfen, das Fremdenbuch, welches mir zur Ausfüllung vorgelegt worden war, wanderte bei guter Gelegenheit hinüber und zeigte in der Rubrik "Woher" die Bemerkung "Vom Biberskopf und Hohen Licht." Schliesslich wurde ein Gespräch angeknüpft. Die Fremden wollten Näheres über das Oberstdorfer Gebirge wissen, und ich vermochte ziemlich befriedigende Auskunft zu geben. Sie erkundigten sich nach Ziel und Zweck meiner Bergwanderungen, und ich erzählte ihnen von meinen heutigen Erlebnissen und von denen früherer Tage und Nächte. Sie schienen Interesse daran zu finden; und die Dame richtete endlich etwas besorgt die Frage an mich: "Waren Sie schon einmal in Lebensgefahr?"...
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung „Das Hohe Licht“ aus dem Buch „Aus den Nördlichen Kalkalpen“ von Hermann von Barth (1874) bzw. teilweise abgeändert nach dem Werk "Gesammelte Schriften" von Bünsch/Rohrer (1926) im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Mit Ausnahme der nach Original-Vorlagen des Verfassers lithographirten Gebirgsprofile und Horizontalprojectionen vom Hohen Licht (Kunst-Beilagen aus dem Werk „Aus den Nördlichen Kalkalpen“ von Hermann von Barth, 1874) handelt es sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden aktuelle "Bergnamen" ergänzt und gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
Glossar:
[1] kulminieren: kulminieren (franz. culminer): den Höhepunkt erreichen, den Gipfelpunkt erreichen (duden.de) -->zurück
[2] Anmerkung H.v.B.: "Im Jahre 1873 hörte ich ihn im Lechthale mit dem Namen Stellwänder bezeichnen" -->zurück
[3] Orographie: Beschreibung der Reliefformen des Landes; orographisch = die Ebenheiten und Unebenheiten des Landes betreffend (duden.de) -->zurück
[4] Hohes Licht: Das Hohe Licht ist mit einer Höhe von 2.651 m ü. A. der zweithöchste Berg in den Allgäuer Alpen nach dem Großen Krottenkopf und liegt im österreichischen Bundesland Tirol -->zurück
[5] Wildes Männle: Wildes Männle -->zurück
[6] Anmerkung H.v.B.: "Der Biberskopf wird wohl am besten von der Westseite, vom Rauhgern-Rücken aus, vielleicht auch von der Nordseite, direkt von der Bibersalpe her, erstiegen werden." -->zurück
[7] lettig: die Höhen der Gebirge enthalten meist flachgründigen kalten Lehm, auch klaiigen, lettigen Thon (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) -->zurück
[8] Lahn: Lahn (österr. bayr. mundartl.) die; ­, -en [mhd. lene = Lawine; Gießbach] (bayr., österr. mundartl.) Lawine (oewb.retti.info) -->zurück
[9] Schwärzer: Schmuggler (oewb.retti.info) -->zurück
[10] Auspicien: Auspicien (aus dem Lat.), Auspicium. Dieses wird gewöhnlich mit Augurium (s. d. Art. Augur) in einerlei Sinne gebraucht, so daß es eine Vorherverkündigung oder Vorbedeutung selbst, eine Anzeige überhaupt bedeutet. Eigentlich aber hieß Auspicium die Vorherverkündigung der Zukunft aus Beobachtung der Vögel, ihrem Fluge, ihrem Gesange etc.: Augurium hingegen jede Weissagung aus Anzeigen und außerordentlichen Erscheinungen aller Art. Und so sagt man auch jetzt noch: es sind gute Auspicien – unter guten Auspicien etwas vornehmen etc.(zeno.org) -->zurück
[11] Hochalpferner: Hochalpferner: Damals muss es hier wohl noch einen Firnflecken am Hohen Licht gegeben haben - ähnlich dem Trettachferner. Anhand der Aufzeichnungen handelt es sich um das Kar unterhalb vom Wilden Mann und Steinschartenkopf - hier zieht auch der Weg von der Rappenseehütte zum Heilbronner Weg vorbei -->zurück
[12] Anmerkung H.v.B.:"Ein rüstiger Steiger wird gleichwohl, wenn seiner Ersteigung des Biberskopfes nicht die Irrgänge, wie ich sie machte, vorhergehen, am gleichen Tage noch das Hohe Licht besteigen können. Er wird zu diesem Zwecke auf der Oberen Bibersalpe übernachten müssen; von hier ersteigt man in ca. 3 St. den Biberskopf, umgeht seine Südseite (incl. Abstieg etwa 2 - 2 1/2 St.), steigt nicht in die Bibersbachschlucht ab, sondern geht quer am Fusse der Rappenköpfe hin in's Kar des Wild-Männle und des Hochalpferners (ca. 2 St.), von hier (2 - 2 1/2 St.) auf das Hohe Licht, 1 St. Abstieg auf die Hochalpe" -->zurück
[13] Klinometer: Klinometer (griech.) Vorrichtung zur Messung der Neigung einer Fläche, einer Linie - Neigungsmesser -->zurück
[14] Anmerkung H.v.B.:"Eine Ersteigung würde am besten von Nordost, aus dem Bockskar zu unternehmen sein." -->zurück
[15] behufs: zwecks, zu dem Zweck - entstammt dem Kanzlei- u. Amtsdeutsch (etymologie.info) -->zurück
[16] Strauss: manch harten Strauss zu bestehen: Strauß, Mehrzahl Sträuße, ein Wort, welches einen mit einem Getöse verbundenen Streit, einen Kampf, Handgemenge, ingleichen ein Gefecht, Treffen, bedeutet, in welchem Falle es ehemals sehr häufig war. Es ist im Hochdeutschen nur noch hin und wieder im gemeinen Leben üblich, wo man noch zuweilen hört: das war ein harter Strauß, ein harter Kampf, oder Streit (Oekonomische Encyklopädie) -->zurück
[17] Wilde Männle: Die kühne Felsnadel stand bis zum 8. Mai 1962 hoch über dem Bacherloch zwischen dem Wilden Mann und der Rotgundspitze, bevor es bei einem nächtlichen Gewitter mit lautem Getöse in das Bacherloch herunterstürzte -->zurück
[18] Anmerkung H.v.B.:"(7420' 2420m) Dieser in NW-Richtung streichende Seitenkamm entspringt an der Rothgundspitze im Hauptgrat und begleitet die Westseite des Bacherloch und Einödsbachthales" -->zurück
[19] sans façon: (franz.) ohne Umstände, ungeniert -->zurück